: Wahnhafte Zusammenhänge
SCIENCE-FICTION Vielleicht verschafft ja der Tod diesem Klassiker die Leser, die er verdient – „Liebe & Napalm“, das Hauptwerk des Apokalyptikers J. G. Ballard, wurde neu aufgelegt
VON FRANK SCHÄFER
Unlängst ist der Science-Fiction-Großapokalyptiker J. G. Ballard an seiner langjährigen Krebserkrankung gestorben. Einige haben in respektvollen Nachrufen seine Vita Revue passieren lassen: seine Internierung in einem japanischen Kriegsgefangenenlager, den Tod seiner Ehefrau; dann die popkulturell einflussreiche Karriere, das zurückgezogene Leben in Shepperton, einem Vorort Londons. Am meisten jedoch ehrt man einen Schriftsteller, indem man ihn liest. Ballard wurde bis in die Achtzigerjahre viel übersetzt, sein Name ist längst kanonisiert, aber greifbar sind seine Werke kaum. Die rührige Edition Phantasia hält einige Romane lieferbar, als Heyne-Taschenbücher gibt es arg zurechtgestutzte gesammelte Erzählungen.
Immerhin wurde kürzlich aber „Liebe & Napalm“ wieder aufgelegt, 1970 erstmals erschienen, alsbald von Carl Weissner ins Deutsche übertragen und jetzt in dieser noch einmal durchgesehenen Übersetzung endlich wieder greifbar. Vielleicht sein Haupt-, sicherlich aber sein formal avanciertestes Werk, eine Sammlung von condensed novels, wie Ballard diese fünfzehn abgeschlossenen, aber durch das Personal und die motivischen Verknüpfungen zusammengehörigen Texte nennt, die mit seinen sonst formal sehr viel konventionelleren Werken nur wenig gemein haben.
„The Atrocity Exhibition“, so der spätere Titel, ist eine Inkunabel der „New Wave“ des SciFi-Genres und markiert zugleich die Grenzen des herkömmlichen Erzählens. Hier herrscht die narrative Entropie, die Auflösung aller gängigen erzählerischen Strukturmuster. Wie in „Naked Lunch“ von William Burroughs zerfällt der Text in Fragmente, surreale, groteske, nur noch einer ästhetischen Logik gehorchende Traumszenarien; und noch stärker als bei Burroughs entbindet Ballard die Sprache von ihrer niederen Aufgaben, zum Beispiel so etwas Profanes wie eine Handlung voranzutreiben. Es gibt fast keinen Plot mehr. Die Prosa verdichtet und verfestigt sich zur Skulptur.
In der Form verhandelt Ballard das, was auch inhaltlich zur Debatte steht. Ein Psychiater verliert langsam den Verstand. Er registriert die zunehmende Fragmentierung seiner Realität und leistet Widerstand. Wahnhaft versucht er die Zusammenhanglosigkeit der Phänomene aufzuheben, indem er aberwitzige Analogien herstellt, Brücken konstruiert, alles in allem spiegelt. „Die junge Frau im weißen Kleid saß neben ihm. In ihren Brüsten und Schultern wiederholten sich die vergessenen Konturen von Karen Novotnys Körper und die kinetischen Skulpturen der Schnellstraßen. Sie fand nicht den Mut, ihn anzulächeln, und starrte stattdessen auf seine Hände, als ob diese eine unsichtbare Waffe hielten. Das blühende Gewebe ihrer Lippen erinnerten ihn an die porösen Esplanaden von Ernsts ‚Silence‘, an die wie zu Bimsstein verhärteten Strände eines toten Meeres.“
Nichts anderes macht dieser Text, er stellt aus diversen Motiven der Sixties-Zeitgeschichte – Vietnam, Marilyn Monroe, das Attentat auf John F. Kennedy, Warhols „Screen Tests“, Autos als Embleme technologischer Evolution, der drohende Dritte Weltkrieg – immer neue sprachlich-artifizielle Zusammenhänge her. Ballard bildet also die Entropie der Welt ab und hebt sie zugleich wieder ästhetisch auf. Die Kunst muss es wieder mal richten, wenn nichts mehr richtig einen Sinn ergibt.
Ein Leitmotiv in diesem Buch ist der Autounfall – Ballard nimmt den Subtext seines späteren Bestsellers „Crash“ vorweg –, weil sich in ihm die Vereinzelung des modernen Subjekts exemplarisch umkehrt: Es verschmilzt gewaltsam mit der Materie. Hier passiert im Kleinen, was der nukleare Weltkrieg dann im globalen Maßstab verspricht, die „Herbeiführung einer totalen Fusion der gesamten Materie“, das Paradies mithin!
Vermutlich war es nicht einmal diese perverse Logik, die seinen amerikanischen Verleger Doubleday veranlasste, die ganze Auflage einzustampfen, sondern nur wieder das bisschen Obszönität und Gewalt an einigen „Stellen“. Was für ein Kleinmut angesichts der immer wieder berückenden Schönheit dieses Prosaexperiments.
Es mag pietätlos erscheinen, aber wenn der Tod Ballards diesem Buch endlich die Leser zuführt, die es verdient hätte, dann dürfte auch ihm das ein melancholisches Lächeln aufs Schattengesicht zaubern, dort drüben in der Zwischenwelt.
■ J. G. Ballard: „Liebe & Napalm“. Aus dem Englischen von Carl Weissner. Milena Verlag, Wien 2008. 235 Seiten, 19,90 Euro