: Ab drei herrscht in Mossul Krieg
AUS MOSSUL INGA ROGG
Es war mitten in der Nacht, Karwan wollte sich gerade schlafen legen, als er den Zettel unter der Haustür fand. Die Botschaft darauf war kurz und unmissverständlich: „Wenn ihr nicht sofort aufhört, bringen wir euch alle um.“
Gerichtet war die Drohung gegen Karwan und seine Hilfsorganisation, die sich um die Betreuung von Behinderten im nordirakischen Mossul kümmert. Es war nicht das erste Mal, dass der Kurde Morddrohungen erhielt. Seit Wochen gingen im Büro der Hilfsorganisation anonyme Drohanrufe ein. Doch diesmal stand das Leben von Karwans Familie auf dem Spiel. Er überlegte nicht lange, packte am nächsten Tag Möbel und Computer auf einen Pick-up, lagerte die Sachen ein und gab die Schlüssel an den Vermieter zurück. „Wenn sie deine Familie ins Spiel bringen, weißt du, es ist Zeit zu gehen“, sagt er.
Kurz nach dem Krieg hat Karwan gemeinsam mit Gleichgesinnten die kleine Hilfsorganisation gegründet. Es war die Zeit des Aufbruchs, in der ganzen Stadt entstanden neue Vereinigungen und Initiativen. „Endlich konnten wir wieder träumen“, schildert Karwan diese Zeit. Zwar habe es von Beginn an auch Leute gegeben, denen die neue Freiheit nicht passte. Leute aus dem Kreis der ehemaligen Machthaber, die Druck machten, die versuchten, das Rad zurückzudrehen. Doch was sollten sie schon ausrichten? „Unsere Organisation hat schließlich nichts mit Politik zu tun“, sagt der 40-Jährige. Der Verein dient als Anlaufstelle für Kleinwüchsige und körperlich Behinderte, bietet auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Fortbildungskurse sowie medizinische und psychologische Beratung an. Darüber hinaus macht er sich für die Gleichbehandlung von Behinderten stark. „Niemand mit Herz und Verstand kann etwas gegen diese Arbeit haben“, sagt Karwan.
Ein gutes Jahr haben er und seine Mitstreiter durchgehalten. Dann häuften sich die Anfeindungen, anonyme Anrufer beschimpften die Vereinsmitglieder als Kollaborateure, erste Morddrohungen gingen ein, Kollegen trauten sich nicht mehr zur Arbeit. Nach und nach sank auch die Zahl der Hilfesuchenden. Dann kam die Nacht, als Unbekannte den Zettel unter Karwans Haustür hindurch schoben. Das war vor zweieinhalb Wochen.
„Ewig werden sie uns nicht einschüchtern“, sagt Karwan. Trotzig wirft er die Arme nach oben, als wollte er einen unsichtbaren Gegner in den Ring fordern. Doch der scheint im Moment obenauf, der Punktsieg geht an die Schatten der Nacht. Das ehemalige Büro besichtigen, die Familie besuchen? „Um Himmels willen, bloß nicht“, sagt Karwan. Weder den Namen des Vereins noch seine wahre Identität soll die Journalistin preisgeben, aus Angst um seine Familie.
Wie Karwan fürchten sich zur Zeit viele in Mossul. Sämtliche Bürgerinitiativen, die in den vergangenen Monaten entstanden sind, haben ihre Pforten wieder geschlossen. Interviewanfragen werden abgewehrt, selbst im Privaten will sich kaum jemand treffen. Nachbarn könnten von dem Besuch Wind bekommen und den Untergrundkämpfern einen Tipp geben. An Moscheen seien Listen mit Todeskandidaten ausgehängt worden, erzählt man sich. Die Atmosphäre gleicht der in Falludscha im Sommer, als sich dort selbst die Notabeln nicht mehr trauten, fremde Gäste zu empfangen.
Verlassene Machtzentralen
Abu Schahab, der in Wirklichkeit ebenfalls anders heißt, gehört zu den wenigen, die es noch wagen, Fremde in Mossul herumzuführen. Acht Jahre saß er wegen seiner Gesinnung im berüchtigten Gefängnis Abu Ghraib. Als Saddam Hussein am Ende seiner Macht sämtliche Häftlinge amnestierte, gehörte er zu der kleinen Gruppe von politischen Gefangenen, die – zusammen mit zehntausenden Kriminellen – freikamen. „Wer Abu Ghraib überlebt hat, lässt sich von niemandem mehr den Mund verbieten“, sagt Abu Schahab.
Die Stadtführung ist genau genommen eine Stadtrundfahrt. Sie führt vorbei an den verlassenen Schaltzentralen der früheren Macht. Politische Parteien, die hier noch bis vor wenigen Wochen residierten, sind verschwunden. Hin und wieder flattert eine einsame Parteifahne im Wind. Selbst von der Islamischen Partei ist weit und breit nichts zu sehen. Die Straßen wirken für Mossuler Verhältnisse, wo sich sonst der Verkehr staut, nahezu verwaist. Spätestens um drei Uhr ist auch der letzte Verkehrspolizist von der Bildfläche verschwunden. „Ab dem Nachmittag gehört die Stadt den Untergrundkämpfern“, sagt Abu Schahab.
Immer wieder biegt er von der Hauptstraße auf Seitenwege ab. Es scheint, als habe eine unsichtbare Hand die Stadt mit geheimen Grenzlinien durchzogen, die zu übertreten selbst für Einheimische lebensgefährlich wäre. Wie ein träger Fluss zieht das Leben dazwischen dahin. Schüler und Studenten sind auf dem Nachhauseweg, Händler verkaufen auf Karren Wintergemüse, in kleinen Handwerksgeschäften wird gehämmert und gezimmert. Riesige Schilder werben mit einer modernen Skyline um Investoren. Doch in Mossul, dem Handelszentrum des Nordirak, haben mittlerweile selbst die Amerikaner ihre Projekte auf Eis gelegt.
Rußflecken am Boden, Metall- und Glassplitter, Einschusslöcher an Häusern zeugen von Bombenanschlägen und Gefechten, davon, dass die Gewalt ständig und überall lauert. Auch die kurdischen Quartiere am linken Tigrisufer, die bis vor vier Wochen noch als relativ sicher galten, kann man nur betreten, wo ehemalige Peschmerga-Kämpfer die Rolle der Polizei übernommen haben.
Abu Schahab, der schmale Mann mit dem früh ergrauten Haar, ist überzeugt, dass hinter der Gewalt in Mossul vor allem hohe Funktionäre der entmachteten Baath-Partei und deren Geheimdienste stecken, die zusammen mit militanten Islamisten gemeinsame Sache machen. Zehntausende Mitglieder hatte die Staatspartei hier, mehrere tausend hatten es bis in die höchsten Ränge geschafft. „Das sind Leute mit Blut an den Händen“, sagt Abu Schahab. Er kritisiert Interimsregierungschef Ajad Allawi, der nach seinem Amtsantritt viele ehemalige Baath-Kader wieder in den Staatsdienst geholt hat, die zuvor von der Besatzungsbehörde geschasst worden waren. Das habe den Baathisten wieder Auftrieb gegeben: „Im Irak werden solche Gesten nicht als Zeichen der Aussöhnung verstanden, sondern als Schwäche“, erklärt der ehemalige Häftling. Und wer schwach ist, hat schon verloren, lautet eine weit verbreitete Redensart im Irak.
Bis vor wenigen Monaten galt Mossul als Musterbeispiel für den Übergang von der Diktatur zur Demokratie. Kaum war indes die Allawi-Regierung im Amt, häuften sich die politisch motivierten Morde. Zuerst traf es Mitte Juli den Gouverneur Ussama Kaschmula, der bei Sunniten, Kurden und Christen in der Stadt einen gleichermaßen guten Ruf genoss. Dann wurden reihenweise Mitarbeiter der amerikanischen Truppen ermordet, Kommandeure der irakischen Sicherheitskräfte mit Entführungen bedroht.
Kein schneller Sieg in Sicht
Das Blatt wendete sich vor einem Monat, als Aufständische mit einem perfekt koordinierten Militärschlag die Polizeiwachen der Stadt überrannten: Sie griffen in Gruppen von 15 bis 50 Mann über die ganze Stadt verteilt an. „Dass sie so gut organisiert seien würden, hatten wir nicht erwartet“, sagt der US-amerikanische Oberleutnant Paul Hastings von der in Mossul stationierten Task Force Olympia. Wie viele Iraker sieht auch Hastings vor allem ehemalige Baathisten hinter der Gewalt. Hinzu kämen ausländische Dschihad-Krieger und militante Islamisten. „Wir haben es hier nicht mit Freizeitkämpfern zu tun“, sagt Hastings, „das sind Personen mit militärischer Ausbildung.“
Anders als in Falludscha im Zentralirak liefern sich die Aufständischen keine offenen Schlachten mit der amerikanischen Übermacht. Stattdessen setzen sie auf Nadelstichoperationen, vor allem aber auf die abschreckende Wirkung von blankem Terror gegenüber den Irakern. Am Dienstag letzter Woche wurden in Mossul erneut vierzehn männliche Leichen mit Kopfschüssen entdeckt, am Montag waren es acht, tags darauf weitere sechs Männer. Die Zahl der in den letzten Wochen Hingerichteten ist damit auf 189 gestiegen, mehr als ein Dutzend von ihnen wurde enthauptet. Opfer der Gewalt werden zusehends auch die Minderheiten der Christen und der kurdischen Jesidi. Vor zehn Tagen legten Unbekannte in zwei Kirchen Sprengsätze, die große Teile der Gotteshäuser zerstörten. Wie die Christen werden die Jesidi wegen ihres Glaubens von Islamisten als Ungläubige verfolgt. Nach Berichten aus umliegenden Dörfern wurden allein in der letzten Woche sechs Jesidi ermordet.
Mit einem schnellen Sieg über die Untergrundkämpfer rechnet auch Oberleutnant Hastings nicht. Mit Razzien versuchen die Truppen, die Untergrundkämpfer in die Enge zu treiben: Mehr als zweihundert Verdächtige wurden in der letzten Woche festgenommen. Der Krieg gewinnt so immer stärker die Züge der klassischen Aufstandsbekämpfung, wie kürzlich, als die US-Soldaten gegen etwa zwanzig Rebellen Luftunterstützung anforderten.
Noch mindestens ein Jahr werde vergehen, bis es in Mossul wieder eine schlagkräftige Polizei gebe, sagt der 46-jährige Militärsprecher Hastings. Bis es so weit ist, sollen vier Bataillone der Nationalgarde aus Mossul und den benachbarten kurdischen Provinzen, reguläre irakische Soldaten und eine Spezialeinheit des Innenministeriums für Sicherheit sorgen und die Durchführung der Wahlen im Januar garantieren.
Bei dem Wort Wahlen verzieht Karwan spöttisch das Gesicht. „Unser Gouverneur regiert heute nur noch übers Fernsehen“, sagt er. „Wie soll man da wählen?“ Noch knapper ist der Kommentar von Abu Schahab. „Machen wir, dass wir aus der Stadt kommen.“ Mit einem kräftigen Tritt aufs Gas braust er davon.