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Archiv-Artikel

„Wenn ich es nicht mache, macht es niemand mehr“

„Die Namen der Nummern“ heißt das Buch, das von 86 Menschen handelt, die im Namen nationalsozialistischer Wissenschaft ermordet wurden. Der Autor Hans-Joachim Lang hat jahrelang ihre Namen recherchiert und den Opfern ein Gesicht gegeben

INTERVIEW VON SUSANNE LANG

Die schöne Seite Tübingens hat Hans-Joachim Lang jedes Mal vor Augen, wenn er von seinem Stehpult aus auf die Stadt blickt. Vor seinem Haus schlängelt sich der Neckar, links davon liegt das malerische „Evangelische Stift“, zu dessen berühmtesten Studenten unter anderen Hegel, Hölderlin und Schelling zählen.

Die Pervertierung der deutschen Aufklärung, deren Spuren auch nach Tübingen führen, liegt direkt vor ihm, dokumentiert in Langs Buch, die Lebensgeschichte von 86 Häftlingen, die der Tübinger Professor August Hirt im KZ Natzweiler 1943 ermorden ließ, um sie als Schauobjekte einer „jüdischen Rasse“ auszustellen. Bislang waren ihre Namen unbekannt. In akribischer Recherche gelang es dem Historiker und Journalisten, die Opfer zu identifizieren, den Häftlingsnummern Namen, Lebensgeschichten zuzuordnen.

taz.mag: Herr Lang, war die Ungeheuerlichkeit dieser Verbrechen ein Anreiz für Ihre Recherche?

Hans-Joachim Lang: Ich konnte nicht glauben, dass – wie es in den wenigen Berichten darüber heißt – es sich um ein ganz grausames, aber eben außergewöhnliches Verbrechen gehandelt haben soll. So ein Professor wie August Hirt fällt nicht vom Himmel, seine Ideen stehen in Zusammenhängen. Deshalb hat mich der damalige Stand der Anthropologie interessiert und ihre Intentionen. Ich wollte keine reine Opfergeschichte schildern, sondern das Verbrechen in seinem Kontext: dem Nationalsozialismus.

Schädel- und Skelettsammlungen hatten doch schon vor der Nazizeit eine gewisse Faszination.

Natürlich. Man erhoffte sich, Unterscheidungsmerkmale zu erkennen. Und die gibt es auch, nur ist es absurd, sie mit Rassenideologien in Verbindung zu setzen. Das war neu.

Die Täter von Straßburg planten ein Panoptikum der „jüdischen Rasse“?

In Straßburg gab es eine Schädelsammlung, wie in fast allen alten Universitäten. Als jedoch die rassistische Ideologie aufkam, wollte man diese anhand von anthropologischen Unterscheidungsmerkmalen auf eine wissenschaftliche Basis stellen. Wann Hirt auf die Idee gekommen ist, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er eine Schädelsammlung vorgefunden und dann mit dem SS-„Ahnenerbe“-Geschäftsführer Wolfram Sievers beschlossen, sie mit Schädeln von Juden zu ergänzen. Zu einem späteren Zeitpunkt wollten sie mehr, nämlich Skelette von Juden. Daraus wollten sie ein Panoptikum machen – ich kann mir das immer noch nicht so recht vorstellen. Es ist natürlich völlig absurd.

Was war das für ein Gefühl, als Sie der ersten Häftlingsnummer einen Namen zuordnen konnten?

Ich kann diesen Moment gar nicht vom gesamten Recherchevorgang trennen, weil ihm ja bereits Jahre an Arbeit vorausgegangen sind – und nicht immer in der Hoffnung, dass es tatsächlich auch zu einem Ergebnis führen wird. Aber selbstverständlich war es ein großes Erlebnis.

Was trieb Sie all die Zeit an – es waren immerhin ja gut fünf Jahre?

Es war die Frage: Was können das für Leute gewesen sein, die dort umgebracht wurden? Wo kamen sie her? Zunächst dachte ich noch, ich könnte die Namen schnell in einem Archiv finden, aber in den Akten war kein einziger Hinweis darauf. Als mir ein Auschwitz-Überlebender schließlich sagte, dass man sie wahrscheinlich nicht mehr rausfinden könne, wollte ich unbedingt weiterforschen.

Weshalb war es Ihnen so wichtig? Weil es nicht sein kann oder darf, dass die Opfer anonym bleiben?

Sein kann, ja. Angesichts von sechs Millionen ermordeten Juden kann man sich irgendwie mit Anonymität abfinden, die Zahl ist so gewaltig groß. Aber bei diesem Verbrechen schien die Zahl – 86 – überschaubar, zumal ich die Abläufe ja schon einigermaßen rekonstruiert hatte. Als ich dann auf die Zeugenaussage des Henry Henrypierre stieß, der sich damals die Nummern der Opfer notiert hatte, ließ mich dies nicht mehr ruhen. Diese Notizen müssen doch irgendwo sein, dachte ich, undenkbar, dass sie weggeworfen wurden! Das Original habe ich trotzdem nicht gefunden, aber die Kopie einer Abschrift – nach zwei Jahren Recherche. Dieser Moment war eigentlich das erste große Erlebnis. Vollends beflügelt hat mich, als ich sehr viel später dann zum ersten Mal Angehörige getroffen habe. Da wollte ich es unbedingt zu Ende bringen.

Wundert es Sie manchmal noch, dass Sie es tatsächlich zu Ende brachten?

Eigentlich schon. Ja. Es ist schon fast so, dass man sich sagt: Das hat jetzt sein müssen.

Inwiefern? Höhere Macht?

Da kommen ganz verschiedene Sachen zusammen. Es ist – auch wenn es etwas pathetisch klingt – ein Akt der Humanität. Ich hatte von einem gewissen Zeitpunkt an die Vorstellung: Wenn ich es nicht mache, macht es niemand mehr.

Warum, glauben Sie, ist es so wichtig, dass man die Namen kennt?

Es muss ein Teil unserer Kultur sein, dass der Prozess der kollektiven Erinnerung nicht abstrakt verläuft. Andere würden jetzt vielleicht große, schöne Abhandlungen halten über die Bedeutung dieser Recherche – das kann ich gar nicht. Denn die hatte ich während meiner Suche nie im Hinterkopf. Ich wusste nur, was ich will.

Eine nahbare Erinnerung ermöglichen?

Ja. Ich habe das Gefühl einfach auch nicht ausgehalten – ach, das klingt auch so pathetisch –, aber als ich auf dem jüdischen Friedhof in einem Vorort von Straßburg stand, wo die Opfer in einem Massengrab beerdigt sind, hat mich sehr berührt, dass es dort nichts gibt, was die Toten konkret, also fassbar macht. Man läuft über den Friedhof – ein wunderschöner, mit alten Grabsteinen – und steht vor einem Massengrab, noch nicht mal mit einer Namenstafel. Sogar den Angehörigen wird so ein Bezugspunkt verweigert. Dieses Gefühl war stärker als irgendwelche Überlegungen, ein Denkmal zu schaffen.

Sie haben ein Buch über die Opfer und Täter geschrieben – doch eine Art literarisches Denkmal?

Ein Buch war nicht mein ursprüngliches Ziel. Von dem Zeitpunkt an jedoch, als ich die Namen herausgefunden hatte und begann, mehr über den Lebenskontext zu erfahren, kamen ganz vorsichtig Personen zum Vorschein, Konturen, greifbare Lebensgeschichten. Von da an wollte ich diese Geschichten als Buch zusammenfassen.

Sie lassen Ihre Leser sehr plastisch nachvollziehen, wie plötzlich Geschichte zur Lebensgeschichte wird. Als Sie mit Ihren Bildern im Kopf den Angehörigen gegenübersaßen, haben Sie so etwas wie Anmaßung verspürt?

Es geht vielleicht in die Richtung. Anmaßung habe ich zwar nie empfunden, aber ich habe festgestellt, dass ich in diesen Momenten noch eine andere Rolle zugeschrieben bekam. Selbstverständlich war mir ein bisschen bange, mit den Leuten Kontakt aufzunehmen. Ich konnte ja nicht wissen, was ich mit diesen Nachrichten eigentlich auslöse und wie ich sie am besten übermittle.

Wovor genau hatten Sie Angst? Dass Sie die Wut treffen könnte?

Ich hatte ganz vage die Vorstellung, dass ich Wunden aufreißen würde. Erst hinterher habe ich wahrgenommen, dass sie sowieso die ganze Zeit über offen waren. Eine über siebzigjährige Frau sagte mir zum Beispiel, dass Sie ihre Familiengeschichte erst jetzt verarbeiten könnte.

Erst mit der Gewissheit, wann, wo und wie ihre Verwandten gestorben sind?

Sie wussten ja nur: verschollen. Und sie wollten es, genau wie ich auch, genauer wissen. Bei den Treffen habe ich realisiert, dass ich nicht nur als Historiker Daten abfrage, sondern sondern mir noch eine andere Rolle zufiel. Ich konnte ja nicht mit der Tür ins Haus fallen.

Sie mussten ungeheure Nachrichten übermitteln.

In der Tat: Die Deportation ins KZ Natzweiler, diese Vermessungen, das grausige Ende, der Anatomiekeller und die perversen Diskussionen, nachdem das „Projekt“ gescheitert war, wie man mit den als Sammlung bezeichneten Leichen umgehen sollte: erhalten oder zerstückeln – das ist nicht so einfach zu vermitteln.

Wie haben Sie es geschafft?

Erst mal habe ich in groben Zügen darüber informiert, was passiert ist. Auf Nachfragen habe ich dann mehr erzählt – peu à peu. Viele Einzelheiten habe ich aber auch über Korrespondenzen mitgeteilt.

Hätten Sie auch Einzelheiten verschwiegen?

Nein, mir war ja klar, dass ich von dem Moment an, wo ich eine Veröffentlichung geplant hatte, nichts verschweigen konnte. Ich wollte auch nicht unglaubwürdig werden. Das war mit Sicherheit der verantwortungsvollste Teil meines Projekts.

War es eine besondere Verantwortung, vielleicht sogar ein Problem, dass Sie den Angehörigen als Deutscher gegenübertraten?

Nein, das wurde mir eigentlich immer zugute gerechnet. Gerade in Paris – der Angehörige dort hatte sich eigentlich vorgenommen, nie wieder mit Deutschen in seinem Leben zu tun haben zu wollen. Als dann mein Brief angekommen ist, hat er sich es noch einmal überlegt – und mich auch empfangen. Bei den Norwegern war es ähnlich.

Nachdem Sie die Deportationsorte zugeordnet hatten, war offenkundig, dass es sich auf ein internationales Projekt ausweiten würde. Hat Sie diese europäische Dimension erschreckt?

Was den Umfang anbelangt: ja. Mir war bis dahin bewusst, aber nicht vorstellbar, welches Ausmaß die Judenvernichtung hatte. Um die Komplikationen der Recherche an einem Beispiel zu verdeutlichen: Von den Leuten, die bei diesem Verbrechen etwa von Belgien aus nach Auschwitz deportiert wurden, kamen die wenigsten aus Belgien – nur eine Frau –, sondern aus Wien, Berlin oder Düsseldorf. Sie waren vorher emigriert ins vermeintlich sichere Belgien.

Umstände, die auch Ihre Recherchen sehr erschwert haben müssen.

Wenn ich mal auf einer Spur bin, möchte ich auch ins Ziel kommen. Selbstverständlich habe ich als Journalist Rechercheerfahrung. Aber dies war eine völlig neue Dimension. Als ich die Zahl der Länder realisierte, als Einzelkämpfer, dachte ich: Um Gottes willen, das schaffe ich nie. Norwegen: Wie komme ich jetzt an Lebensdaten eines norwegischen Angehörigen? Ich spreche ja kein Norwegisch.

Und wie kamen Sie daran?

Zufall – dem man aber auch durch zielstrebige Recherche nachhelfen kann. Im Falle des Norwegers Frank Sachnowitz bestand er darin, dass ich in der Berliner Bibliothek der Jüdischen Gemeinde auf eine Biografie eines Auschwitz-Überlebenden gestoßen bin. Und ich las und las – und bemerkte, dass er auch über die Nummern seiner Familie schrieb! Ich hatte meine Liste dabei, verglich sie und: Eine stimmte mit der seines jüngsten Bruders überein! Man braucht auch viel Geduld.

Die hatten Sie auch immer?

Man muss zwangsläufig geduldig sein! Mein Gott, was macht man? Kommt heim, denkt, es ist Post da – es ist keine da. Dafür kommt am späteren Abend unerwartet eine E-Mail aus Südfrankreich von einer Tochter des Buchautors Hermann Sachnowitz, die wiederum eine Schwester erwähnt, die in Jerusalem lebt. Sie habe ich dann getroffen. Seither bin ich mit ihr befreundet, wie mit anderen Angehörigen auch. Wir stehen in regelmäßigem Kontakt.

Ausgangspunkt Ihrer Recherche war Tübingen, da der Anatomieprofessor August Hirt dort lehrte. Ist das Verbrechen durch Ihre Recherche der Universitätsstadt geografisch näher gerückt?

Mir war wichtig, zu zeigen, dass Judenvernichtung nicht irgendwo in der Ferne gespielt hat, sondern ganz konkret mit Orten hierzulande zu tun hat. Ich habe auch im Schwäbischen Tagblatt über das Verbrechen geschrieben – und das ganz bewusst, auch wenn es komisch klingt, unter der Rubrik „Heimatgeschichte“. Dieses Wort hat ja gerade durch die Nazizeit einen gefärbten Ton bekommen, aber ich wollte ihn anders besetzen.

Weniger verkitscht?

Ja. Um zu demonstrieren, dass Heimatgeschichte nichts Idyllisches ist. Es geht nicht um Anklage, sondern um ein Bewusstmachen von Geschichte: dass Tübingen nicht nur Hölderlin ist.

Wenn man sich langsam ein Bild, eine Kontur von den Personen erarbeitet und dabei weiß, diese Menschen sollten als Objekte ausgestellt werden – will man es da noch genauer wissen?

Natürlich. Diese Gleichgültigkeit der Täter, die hat mich sehr schockiert. Nach längeren Überlegungen hatten sie sich jedoch entschlossen, dass die Sammlung in Teilen erhalten werden soll. Und nachdem die Leichen im Keller waren, hat es ja auch nicht mehr so pressiert. Ich glaube sogar, dass es nicht Hirts vorrangiges Projekt war, sondern eher etwas Beiläufiges, im Sinne von „das macht man halt“. So wie man sich eine Institutsausstattung anschafft, um das Institut attraktiv zu machen.

Empfinden Sie es als zynisch, dass die Nummerierung Ihnen wiederum geholfen hat, die Opfer dieses Massenverbrechens herauszufinden?

Nein, darüber habe ich nie nachgedacht. Im Gegenteil: Es hätte schon viel früher jemand darauf stoßen können. Es wundert mich schon stark, dass sich niemand vorher die Mühe gemacht hat, wenn so ein Verbrechen überliefert ist. Ebenso wie ich nicht verstehen kann, dass man nicht an Originale gelangt, weil etwa Frankreich so strenge Archivgesetze hat. Auf den Akten aus der Zeit der Kollaboration ist eine Sperrfrist von hundert Jahren. Die Zeit der Kollaboration ist in Frankreich noch ein sehr tabuisiertes Thema, im Elsass ganz besonders.

Stellt Ihr Buch nun so etwas wie einen Abschluss dar?

Nein. Abgesehen davon, dass ich ja mit vielen Leuten weiter in Kontakt bin, habe ich noch lange nicht alle Angehörigen der Opfer aufgespürt oder gesprochen. Bisher waren es fünfzehn. Im Internet habe ich eine Homepage eröffnet – in der Hoffnung, dass per Schneeballsystem doch noch der eine oder andere Angehörige darauf stößt. Mir war es zunächst wichtig, dass ich von allen Ländern, aus denen Opfer kamen, Angehörige finde. Denn 86 Biografien – die hätte in einem Buch sowieso kaum jemand gelesen.

SUSANNE LANG, 28, taz-zwei-Redakteurin, ist mit ihrem Interviewpartner nicht verwandt