: Furchtbar rechtschaffen
Im „Fall Daschner“ argumentiert die Verteidigung mit Bezug auf eine höhere Moral. Dabei geht es beim Vorwurf der Folter um die Verteidigung prinzipieller Rechtsnormen
Wolfgang Daschner ist ein rechtschaffener Mann. Gesetzestreu, pflichtbewusst, vier Jahrzehnte im Polizeidienst. Er steht zu dem, was er tut – und macht das aktenkundig. Jawohl, er hat „angeordnet, dass Magnus Gäfgen nach vorheriger Androhung, unter ärztlicher Aufsicht, durch Zufügung von Schmerzen – keine Verletzungen – erneut zu befragen ist“.
Weil ihm nichts anderes blieb. Weil er das Leben eines entführten Kindes retten musste. Wer wollte ihm da in den Arm fallen? Hätte der elfjährige Jakob von Metzler noch gelebt, als man seinen Entführer endlich zum Sprechen gebracht hatte – Wolfgang Daschner wäre der Held des Tages gewesen.
Entsprechend fielen die Interviews aus, die der Frankfurter Polizeivizepräsident gab, kurz nachdem seine Anordnung ruchbar geworden war: Nein, er hätte es nicht bei der bloßen Drohung belassen. Ja, er werde so etwas notfalls wieder tun.
Schon damals, im Februar 2003, hörte man solchen Rechtfertigungsversuchen an, dass der Mann seiner Tat nicht gewachsen ist. Eben das wurde im Prozess gegen ihn und seinen willfährigen Kriminalhauptkommissar Ortwin Ennigkeit offensichtlich. Daschner hat nicht das Format, in guter Absicht einen bösen Rechtsbruch zu begehen und dann zurückzutreten. Er beruft sich auf eine höhere Moral, möchte aber auch das Recht auf seiner Seite haben. Wie komfortabel. Kommissar Ennigkeit dagegen will’s gar nicht gewesen sein. Ein trauriges Gespann.
Was die Angeklagten über die entscheidenden Stunden im Präsidium mit gestelzten Worten zu Papier gebracht haben, verdeckt mehr, als es erklärt. Nicht von ungefähr. Mit den gespenstischen Lagebesprechungen höherer Polizeioffiziere, die hässliche Foltermethoden „andenken“, erntet keiner Sympathie.
Da macht es sich besser, mit dem Schicksal des armen Jakob Emotionen zu schüren. Dass einer ein argloses Kind tötet, lässt schließlich niemanden kalt: „Es war für mich nicht vorstellbar, die Vollendung eines Mordes an einem entführten Kind unter staatlicher Aufsicht zuzulassen.“ Das schlimmste an diesem Satz ist, dass man Daschner aufs Wort glauben muss. Für ihn war „nicht vorstellbar“, was ein guter Polizist in bitteren Stunden lernt: Dass eine Polizei, die auf die Verfassung verpflichtet ist, nicht nur Leib und Leben des Opfers, sondern auch die Bürgerrechte des mutmaßlichen Täters schützen muss. Dass eine Polizei, die an die Regeln des Rechtsstaats gebunden ist, nicht jedes Unheil abwenden kann. Daschner aber wollte um jeden Preis ein Kind retten. Eben deshalb ist er als Polizeiführer so gefährlich.
Es gibt eine Art von Rechtschaffenheit, die noch jeden gewöhnlichen Rechtsbruch übertrumpft – weil sie zu keinem Unrechtsbewusstsein findet. Wolfgang Daschner ist ein furchtbar rechtschaffener Mann. Bis heute steht er zu seiner Anordnung. Nur von „Folter“ will er nichts hören. Er verbittet sich das: „Ich möchte klarstellen, dass ich zu keinem Zeitpunkt die Androhung oder Anwendung von ‚Folter‘ veranlasst habe.“ Dabei liest sich der Wortlaut seiner beispiellosen Anordnung wie ein Fall aus dem Lehrbuch. Die einschlägige Konvention der UNO definiert Folter als jede Handlung eines Staatsbediensteten, „durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen zugefügt werden, zum Beispiel, um von ihr eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen“.
Womit, wenn nicht mit Folter, wurde hier gedroht? Nun will Kriminalhauptkommissar Ennigkeit gar nicht richtig gedroht, sondern Gäfgen vielmehr „ins Gewissen geredet“ haben. Rätselhaft nur, warum Daschners „Bote“ in wenigen Minuten erreichte, was einem erfahrenen Vernehmungsbeamten über viele Stunden nicht gelungen war.
Obgleich über eine Folterdrohung verhandelt wurde, war selten von „Folter“ die Rede. Nicht einmal der Staatsanwalt, der sich auch sonst auffallend zurückhielt, mochte das Wort in den Mund nehmen. Am Ende kam heraus, dass Wolfgang Daschner, offenbar überfordert, schlicht versagte. Und dass er (immerhin!) alle Mühe hatte, seine Folterambitionen durchzusetzen. Im Führungsstab war man „perplex“, äußerte Bedenken, stellte „die Maßnahme“ mehrfach zurück. Weil man eine „tragbare Alternative“ vorbereitet hatte: die Konfrontation des Tatverdächtigen mit der Schwester des entführten Kindes. Allein das straft das Gerede des Frankfurter Polizeivizepräsidenten von der Ultima Ratio Lügen.
Leider fand niemand den Mut, den Folterfantasien des Chefs offen entgegenzutreten: Man taktierte hinhaltend, fuhr zweigleisig. So bestellte man den von Daschner geforderten Polizeiarzt – der sich übrigens bereit erklärte! Und weil sich an Ort und Stelle kein Freiwilliger fand, telefonierte man nach einem SEK-Mann, „der es machen könnte“.
Das also ist die Lage vor dem Urteil: Die Angeklagten sind im Kern geständig. Das Verbot, mit Gewalt Aussagen zu erzwingen, lässt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Mit der „bloßen“ Androhung, die seelische Schmerzen zufügt, beginnt bereits die Folter. Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe kommen nicht in Betracht – da mögen sich einige Juristen mit noch so abenteuerlichen Rechtsverbiegungen hervortun. Das Verbot der Folter ist notstands- und abwägungsfest: weil Würde unverfügbar ist. Das gilt selbst gegenüber dem gern zum „Höchstwert“ stilisierten Recht auf Leben: Im Gegensatz zur Menschenwürde steht es unter einem Gesetzesvorbehalt, das besagt die Verfassung.
Dass Daschner und die Seinen auf Freispruch plädieren, versteht sich. Dass aber der Staatsanwalt eine Verwarnung nebst Geldstrafe auf Bewährung fordert, ganz so, als handele es sich um eine Bagatelle, ist absurd, ja geradezu gemeingefährlich: Es signalisiert gewissen Vernehmungsbeamten, sie riskierten kaum mehr als die Kegelkasse. Dabei geht es um die Verteidigung der Rechtsordnung. Eine richtige Anklagebehörde handelt entsprechend. Die in Frankfurt brauchte länger als ein Jahr, um anzuklagen. Dabei blendete sie das Verbrechen der Aussageerpressung (mindestens ein Jahr Gefängnis) von vornherein aus. Um schließlich selbst noch den Strafrahmen der schweren Nötigung (6 Monate bis 5 Jahre) zu unterbieten. Darauf muss man erst mal kommen.
Ob das Gericht die Angeklagten, wie vielfach spekuliert wird, mit einer milden, nur „symbolischen“ Bewährungsstrafe unter zwölf Monaten davonkommen lässt – aus Rücksicht auf Beruf und ungeschmälerte Pensionsansprüche –, ist zweitrangig und in Kauf zu nehmen. Wenn sich in Frankfurt nur Richter finden, die den ersten Ansätzen polizeilicher Foltermethoden kategorisch Einhalt gebieten.
Am Gerichtsgebäude ist eine Gedenktafel angebracht. Sie ist den Opfern des Naziregimes gewidmet, auch den Gefolterten.
Man wagt gar nicht zu glauben, was manche Prozessbeobachter für möglich halten: Dass die 27. Strafkammer des Landgerichts Daschner & Co. am Montag freisprechen könnte.
HORST MEIER