: Das Leben ist ein guter Witz
ÜBERLEBENSJAZZER Der jüdische Gitarrist Coco Schumann wird verdiente 85 Jahre alt
VON THOMAS WINKLER
Er kann’s nicht lassen. Die Hände sind geschüttelt, die Abschiedsfloskeln ausgetauscht, aber der Entertainer in Coco Schumann ist warmgelaufen, und jetzt steht er in seiner Haustür und ruft dem Besucher hinterher: „Noch einen Witz auf den Weg?“
Ja, natürlich, gern. „Jeden Morgen guck ich in den Spiegel.“ Eine kleine, wohlgesetzte Kunstpause, während das runde Gesicht des kleinen Mannes aufleuchtet in Vorfreude auf die eigene Pointe. „Und jeden Morgen denke ich: Hoffentlich werde ich mal so alt, wie ich aussehe.“ Tatsächlich sieht Coco Schumann kaum einen Tag jünger aus als die 85 Jahre, die er bald vollenden wird. Aber andererseits: Dazu hat er auch jedes Recht. Dass man seinen Falten und Runzeln ansieht, was er alles erlebt hat, was er durchgemacht hat in diesen 85 Jahren: die Erfolge in den Jazzkellern Berlins, die Triumphe in der Schlagerbranche, die Ochsentour auf den Kreuzfahrtschiffen, die Musik, den Alkohol und die Frauen, aber auch die Verfolgung und die Todesangst, Theresienstadt und Auschwitz.
Die Furchen, die dieses Gesicht durchziehen, sie sind tief. Und die Hände, mit denen er seit fast einem Dreivierteljahrhundert die Gitarre spielt, wie es kaum sonst einer kann, sind grob und abgearbeitet, als hätte Coco Schumann nicht gespielt mit Louis Armstrong und Ella Fitzgerald, sondern sein langes Leben jeden Tag auf einem Acker geschuftet.
Aber die Falten und Hände, die sind nicht das Erste, das man sieht, wenn man Coco Schumann trifft. Das Erste sind die Augen, die immer ein bisschen frech gucken, freundlich, aber auch ein wenig spöttisch, die nicht bitter sind, sondern lebendig blitzen und erzählen von der Freude über jeden neuen Tag. Von einer Freude, die vielleicht nur jemand empfinden kann, dem das Leben mehr als einmal geschenkt wurde. „Ich bin meinem Schicksal dankbar“, sagt er, „mir ist so viel Gutes widerfahren“.
Zum ersten Mal wurde Coco Schumann das Leben geschenkt am 14. Mai 1924 von seiner Mutter, einer Friseurin – und Jüdin. Und dann, nach einer zuerst unbeschwerten Kindheit in einem aufregenden Berlin, immer wieder aufs Neue. Jeder Tag konnte der letzte sein, als Halbjude im Dritten Reich, mit dem gelben Stern versteckt in der Jackentasche, wenn er in halblegalen Clubs den verbotenen Jazz zuerst hörte und dann später selbst spielte. Jeder neue Tag war ein Geschenk nach der Verhaftung 1943 und dem Transport nach Theresienstadt, wo er mit anderen jüdischen Jazzgrößen bei den Getto-Swingers spielte. Und erst recht dann in Auschwitz, wo die SS ihn abkommandierte, immer wieder „La Paloma“ zu spielen, damit die Leidensgenossen beruhigter von der Rampe ins Gas gingen. „Wir machten Musik in der Hölle“, schrieb Schumann ein halbes Jahrhundert später in seinen Memoiren.
Bis dahin hatte er eisern geschwiegen. Egal ob er im Nachkriegsdeutschland in der Band von Helmut Zacharias kommerzielle Erfolge feierte, sich nach Australien aufmachte, um dort von vorn anzufangen, oder, wieder zurück in seinem geliebten Berlin, sich als Unterhaltungsmusiker durchschlug, Schumann hatte seine Vergangenheit, die Geschichte seines Überlebens zum Tabu erklärt. Wenn einer fragte, erinnert er sich heute, dann hat er gesagt: „Ich war in Auschwitz, aber ich will nicht drüber reden.“
Er wollte, das hat er, seit er sein Schweigen brach, immer wieder erklärt, nicht in die Geschichte eingehen als ein Holocaust-Überlebender, der auch Musik gemacht hat. Er ist ein Musiker, der auch im KZ war. Also redet er lieber darüber, wie er einmal mit seiner Band eine geschlagene halbe Stunde über das Motiv von „Hänschen klein“ improvisiert hat: „Man kann aus jeder Melodie was machen.“
Man kann auch aus jedem Leben was machen, das hat Schumann bewiesen. Egal ob es mit dem Swing gut lief, direkt nach dem Krieg, als die GIs in die Clubs strömten, oder später, als er sich durchschlagen musste mit Unterhaltungsmusik und als Lehrer nicht allzu talentierter Eleven an der Musikschule Zehlendorf. „Ich musste ja mein Geld verdienen“, sagt er.
Vor zwanzig Jahren aber kam dann der Abend, an dem er zum dritten Mal den Ententanz spielen sollte, und seitdem spielt er wieder nur die Musik, die er liebt, den Jazz. Lässt die breiten Finger übers Griffbrett laufen, ganz entspannt, mit der Ruhe des Alters, und die Töne aus der Gitarre perlen.
Wenn man ihn so sieht, wie selbstverständlich die Gitarre unter seinen Händen zum Leben erwacht, wie fügsam sie sich dem Gesamtklang einer Band unterordnet, aber sich auch zum Solo aufschwingen kann, mit welch unglaublicher Selbstgewissheit der Gitarrist Coco Schumann sein Instrument beherrscht und vor allem, mit welcher Souveränität er die Pausen setzt, denn, sagt Coco Schumann, „nicht jeder, der Schreibmaschine schreiben kann, ist auch ein Schriftsteller“. Wenn man also Coco Schumann einmal zugehört und zugesehen hat, wie er Geschichten erzählt mit der Musik, dann weiß man, warum ihn irgendjemand mal den deutschen Django Reinhardt getauft hat.
Dieses Land kennt ihn trotzdem eher als den kleinen Kumpel des großen Stehgeigers Helmut Zacharias. In dessen Bands spielte Schumann, mit ihm gelangen ihm seine größten kommerziellen Erfolge. „Ich war ein Glückskind“, sagt er und meint: nicht nur in dieser Zeit.
Dieses Land hat ihn gewürdigt. Vielleicht nicht so, wie es angemessen gewesen wäre, aber er wäre der Letzte, der das beklagen würde. Er hatte sein Auskommen, meistens zumindest, er lebt seit 40 Jahren in seinem kleinen Häuschen in Dahlem, und er hatte immer den Jazz. 1989 bekam er das Bundesverdienstkreuz, und im vergangenen Jahr haben sie ihm auch den Berliner Verdienstorden umgehängt, aber „Orden, das klingt mir zu sehr nach Militär“. Für Willy Brandt ist er sogar auf Wahlkampftour gegangen. „Der Willy, das war einer, das war ein Politiker.“
Heute ist er ein „enttäuschter Sozialdemokrat“, und in den letzten Jahren ist ihm dieses Land zunehmend fremder geworden, weil die Braunen wieder sichtbarer werden und weil man das, was deren Vorgänger damals gedacht haben, wieder nicht nur denken, sondern laut sagen darf. Ihm selbst ist noch nichts passiert, sagt er, „aber ich seh ja Fernsehen, und wenn ich dann noch dran denken muss, dass die auch noch von meinen Steuergeldern leben“. Wählen geht er noch, aber nur „von allen Übeln das kleinste“.
Seine Frau Gertraud, mit der er sein halbes Leben zusammen war, ist vor ein paar Jahren gestorben. Seitdem ist er mit dem Haushalt so beschäftigt, „dass ich kaum noch Zeit zum Üben habe“. Er ist noch schnell genug mit den Fingern, aber er geht nicht mehr viel raus. Selten noch ins Yorckschlösschen, um sich ein paar Kollegen anzuhören, seltener noch in eine Schule, um einer Klasse seine Geschichte zu erzählen. Er rafft sich dazu auf, sagt er, „weil es wichtig ist, dass sich die jungen Leute mit dieser Zeit beschäftigen“. Dass es groß was nützt, das glaubt er nicht. Aber auch wenn man nichts ändern kann, hat er doch noch die Gitarre, hat den Jazz, die Musik. „Solange ich noch kann“, sagt Coco Schumann, „so lange mache ich noch Musik.“
Wie lang das noch geht, das weiß er nicht. Vielleicht noch lange. Les Paul, der legendäre Gitarrist und Instrumentenbauer, hat ihm unlängst eine Postkarte geschickt. Schumann holt sie aus dem Flur, wo sie an der Wand pinnt: „Der ist 96 Jahre alt und spielt immer noch“. Aber er weiß auch, dass es vielleicht nicht mehr allzu lange geht. Vor ein paar Wochen hat er René Kollo zufällig auf der Straße getroffen, und sie haben sich unterhalten, „nur über Krankheiten“. Und wie geht es ihm gesundheitlich? „Ich kann nicht genug klagen“, lacht er.
Wenn Coco Schumann gefragt wird, was er in diesem seinem langen Leben gelernt hat, dann antwortet er: „Guck immer auf morgen, guck niemals zurück.“ Denn auch wenn einem nicht mehr so viel Zeit bleibt, bleibt doch immer noch Zeit für einen Witz. Kennen Sie den über Miles Davis?, fragt er. Und seine Augen leuchten wieder auf. Aber man muss ja nicht jede Pointe verraten. Morgen ist ja auch noch ein Tag.
■ Coco Schumann: „Rex Casino“ CD+DVD (Trikont/Indigo). Live am 14. Mai im Opernpalais