: „Auf dem Markt der Religion bewegt sich viel. Wir haben das nur lange nicht bemerkt“
INTERVIEW BASCHA MIKA, STEFAN REINECKE UND CHRISTIAN SEMLERFOTOS DETLEV SCHILKE
taz: Herr Graf, Herr Türcke: Wer nicht an Gott glaubt, glaubt alles Mögliche. Richtig oder falsch?
Christoph Türcke: Das hängt von der Sichtweise ab. Gott kann ja auch alles Mögliche bedeuten. Gerade das Wort Gott ist ein Behälter für alle möglichen Projektionen. Wenn auf die Frage: „Glaubst du an Gott?“ die Antwort „Ja“ kommt, weiß man noch sehr, sehr wenig.
Friedrich Wilhelm Graf: Das Wort Gott ist ein extrem interpretationsoffener Begriff, und es ist oft versucht worden, diesen Begriff rational unter Kontrolle zu bringen. Dies hat sich immer wieder als höchst schwierig erwiesen.
Vor fünfundzwanzig Jahren hätten wir uns kaum träumen lassen, dass Religion wieder eine so große Rolle spielt. Ist die Wiederkehr des Religiösen im Westen eine Reaktion auf den Islam? Oder eine Tendenz, die aus den säkularen Gesellschaften selbst kommt?
Graf: Nun, diese Frage verrät einen klassisch westlichen, intellektuellen Blick. Sie sagen Wiederkehr der Religion und assoziieren Islam. Aber wenn Sie die religiösen Wandlungsprozesse der Gegenwart anschauen, ist nicht der Islam die aggressiv wachsende Religion. Das Christentum wächst sehr viel aggressiver. Wir mitteleuropäische Intellektuelle haben das nur nicht bemerkt.
Wo passiert das?
Graf: In Lateinamerika zum Beispiel. Dort erodiert der traditionelle Katholizismus, charismatische, pfingstlerische Gruppen setzen sich durch. Ähnliche Entwicklungen erleben Sie in ostasiatischen Gesellschaften, in China, wo es derzeit sehr viel gewalttätige Religion gibt. In Teilen ist die Radikalisierung von islamischen Gruppen eine Reaktion darauf, dass andere genauso radikal und aggressiv argumentieren und versuchen sich auf dem religiösen Markt durchzusetzen.
Herr Türcke, ist die Diagnose von der Wiederkehr des Religiösen im Westen richtig?
Türcke: Nur oberflächlich betrachtet. War denn wirklich weg, was da wiederkehrt? Die Rede von der Wiederkehr meint ja, dass die Säkularisierung sich durchgesetzt hatte. Das halte ich für eine etwas einfältige Sichtweise.
Es gab keine Säkularisierung?
Türcke: Doch. Wir leben ja nicht mehr im christlichen Mittelalter, und das Christentum ist nicht mehr der soziale Leim dieser Gesellschaft. Aber wirklich durchgedrungen ist die Säkularisierung in mehrerer Hinsicht nicht. Religiöse Gruppen haben stets weiterhin existiert. Und vor allem muss man fragen, wie säkular denn die moderne, kapitalistische Gesellschaftsform, die Marktwirtschaft, ist? Ich glaube, wir haben es immer nur mit einer Verschiebung des Religiösen zu tun gehabt.
Was ist religiös an der Marktwirtschaft?
Türcke: Nehmen Sie das Wort Messe. Ursprünglich bezeichnete es mal die christliche Kulthandlung. Um dieses christliche Heiligtum herum entstand der Markt, der historisch gleichsam als Rinde des Heiligen begann. In der kapitalistischen Vergesellschaftung ist die Rinde, das Drumherum, zum Eigentlichen geworden. Wenn Sie auf die Hannover Messe oder eine Automesse gehen, verstehen Sie, dass der Markt selber geworden ist, worum er früher bloß die Rinde war.
Ist das mehr als eine prägnante historische Metapher?
Türcke: Der Markt ist selbst zu einer Schicksalsinstanz geworden, die so ähnlich annimmt und verwirft, wie früher der kalvinistische Gott. Denn die Verwerfungs- und Erwählungshandlung durch den Markt werden als authentisch erlebt. Der Markt fungiert also in bestimmter Hinsicht als Sinnstifter. Auch wenn jeder weiß, dass das Angenommensein vom Markt nicht bedeutet, gerettet oder erlöst zu sein in einem theologischen Sinn. Aber es errettet zumindest von dem furchtbaren Schicksal, ausgesondert zu sein, nicht gebraucht zu werden, eine Arbeitskraft zu sein, die keinen Sinn hat, weil sie unverkäuflich ist. Zu behaupten, die Gesellschaft sei durch und durch säkular, ist also schlicht naiv.
Bleiben wir bei der Frage der globalen Wiederkehr des Religiösen. Sie, Herr Graf, sagen, es geht nicht um die Wiederkehr, sondern um unsere Wahrnehmung. Wir entdecken das Religiöse neu, weil wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten. Dabei war es schon immer da …
Türcke: Da bin ich nicht ganz sicher. Ich glaube eher, dass es ein Problem von Latenz und Manifestation ist. Latenz heißt, eine Sache ist ins Verborgene geraten …
Graf: Doch, die Wahrnehmung ist sehr wichtig. Wenn Sie in der Vorstellung leben, dass die Moderne durch Rationalisierung und Abbau von Irrationalität geprägt ist, dann nehmen Sie viel gelebte Religion nicht zur Kenntnis. Dann machen Sie Ferien auf Sizilien und erleben, dass es dort einen archaischen Katholizismus gibt. Aber weil Sie entsprechend disponiert sind, gehen Sie davon aus, dass der irgendwann mal verschwinden wird. Sie nehmen es wahr, aber in der Perspektive des Verschwindens.
Türcke: Wahrnehmung hat etwas zu tun mit Akzeptieren-Können und Nicht-zulassen-Können. Und das Verdrängen von religiösen Phänomenen war lange Zeit ja selbst etwas Manifestes. In den 60er-Jahren galt Religion als historisch überlebt. Und nun zeigt sich …
… dass sich diese Sicht selbst historisch überlebt hat. Liegt das auch daran, dass der Fortschritt der Naturwissenschaften, etwa in der Gentechnik und Hirnforschung, alte Fragestellungen der Theologie wieder auf die Tagesordnung setzt?
Graf: Ja. Max Weber schreibt, die Wissenschaft sei die spezifisch gottfremde Macht der Moderne. Diese spezifisch gottfremde Macht hat nun normative Konflikte provoziert, die sich möglicherweise – ich sage es ganz vorsichtig - nur in einer religiösen Sprache bearbeiten lassen. Beispielsweise, wie wir uns selbst wahrnehmen und deuten. Wir müssen mit der Endlichkeit dieses deutenden Wesens umgehen, wir müssen uns zu Grunderfahrungen des Lebens verhalten. Insofern hat die Wissenschaft selbst ein Stück dazu beigetragen, dass solche Fragen hohe normative Relevanz gewinnen.
Die Amtskirchen sind aber trotzdem in der Krise.
Türcke: Richtig. Schauen Sie sich an, was die Leute in unserer Gesellschaft noch vom Christentum wissen. Das ist verdammt wenig. Vom Kirchenbesuch reden wir lieber gar nicht. Das Christentum ist nicht mehr der Leim, der die Gesellschaft zusammenhält. Und ich wünsche mir diesen Leim auch nicht zurück. Er hat keine moralische oder intellektuelle Attraktivität mehr. Dafür klebt viel zu viel Blut am Christentum.
Graf: Ich würde es anders beschreiben. Das Erstaunliche ist doch, wie stabil die Kirchen im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Institutionen sind. Wenn Sie sich die Lage der Gewerkschaften oder Parteien anschauen, dann stehen die Kirchen vergleichsweise gut da, jedes Wochenende. Das Problem ist, dass wir sehr hohe normative Erwartungen an das haben, was einmal gewesen sein soll und dann können wir Gegenwartsphänomene immer nur in Verlustperspektiven wahrnehmen.
Und das ist eine Täuschung?
Graf: Ja, ich halte das für falsch. Denn es geht um etwas anderes: Die Grenzen des Sagbaren haben sich in Sachen Religion deutlich geöffnet. Gerade daraus erwachsen neue Religionskonflikte, die dann offenkundig das Ganze sehr dynamisch halten.
Gibt es denn in unserer postsäkularen Gesellschaft eine gemeinsame religiöse Sprache oder Ausdrucksform?
Türcke: Nein, empirisch gibt es die nicht.
Graf: Doch, Herr Kollege. Es gab die Zivilreligion der alten Bundesrepublik, deren Grundbekenntnis „Nie wieder Auschwitz“ lautete. Die Erinnerungskulturen leben von massiv zivilreligiösen Symbolen und werden hochgradig mit Glaubenssprache konnotiert. Die Pflicht zum Erinnern, die Rede von Schuld, das sind religiöse Begriffe.
Aber Erinnerung an nationale Verbrechen ist doch republikanisch – und nicht unmittelbar religiös?
Graf: Von unmittelbar habe ich auch nicht gesprochen.
Türcke: Wenn es um Erinnern, Schuld, Kollektivschuld etc. geht, spielen religiöse Momente immer mit. Das lässt sich nie keimfrei von der Religion trennen. Aber von einer allgemeinen religiösen Sprache zu sprechen, Herr Graf, wäre mir zu überstürzt. Zumal dann schnell die Gefahr besteht, dass man all diese Diskurse für kirchliche Belange einkassiert und sagt: Wenn ihr solche Diskurse führt, seid ihr ja doch Christen und glaubt an den lieben Gott. Ihr müsst es euch bloß klarmachen …
… und Kirchensteuer zahlen. Darin steckt die Frage, ob unsere Republik und Verfassung ohne christlichen Hintergrund denkbar wäre?
Türcke: Das ist eine alte Debatte …
Binden wir sie aktuell an: Soll in die Europäische Verfassung der Gottesbezug? Ja oder Nein?
Türcke: Nein! Der Bezug auf ein imaginäres Wesen, über dessen Existenz mit Recht die allergrößten Zweifel bestehen, gehört nicht in die Verfassung.
Herr Graf, sehen Sie das auch so?
Graf: Auch ich bin dagegen, den Gottesbezug in die Europäische Verfassung zu schreiben, aber aus anderen Gründen als Herr Türcke. Denn in dieser Debatte ging es um Machtpolitik. Es gibt in der erweiterten EU eine neue, komplexe Konfessionsstruktur – und bestimmte Gruppen haben versucht, Europa auf Leitbilder der römisch-katholischen Überlieferung festzulegen.
Trotzdem steht in der EU die Trennung von Staat und Kirche außer Frage. Es gibt aber religiöse Gruppen, die aggressiv im öffentlichen Raum agieren …
Graf: … ja, und die dabei die funktionale Differenzierung von Politischem und Religiösem in Frage stellen. Die sagen: Wir erkennen diese Unterscheidung nicht an, wir wollen keine Gleichberechtigung mit Gruppen, die unsere Wertorientierungen und religiösen Überlieferungen in den Schmutz ziehen. Wer Religionsfreiheit stärken und fördern will, wer also der Glaubens- und Gewissensfreiheit einen hohen normativen Stellenwert gibt, der muss über die Binnenperspektive dieser Leute ernsthaft nachdenken.
Die Probleme, die der religiöse Pluralismus mit sich bringt, sind klar. Aber gibt es nicht noch etwas anderes – ein verbindendes transzendentes Interesse? Wer zu Gott betet, fühlt der anders als jemand, der vor einem Buddhaschrein meditiert?
Graf: Das ist eine interessante Beobachtung. Denn wir erleben in vielen europäischen Gesellschaften pragmatische Bündnisse von religiösen Akteuren. Der Pariser Erzbischof engagiert sich für Muslime, weil beide sich von dem neuen, aggressiven Säkularismus angegriffen fühlen. Viele junge Musliminnen erleben in Frankreich die katholischen Bildungsstätten als Orte der Liberalität. Dort können sie ihr Kopftuch tragen, dort werden sie als gläubige Personen respektiert – in staatlichen Bildungsinstitutionen erfahren sie nur Unterdrückung. Das sind interessante neue Konstellationen.
Wird der religiöse Pluralismus von den Kirchen nicht vor allem als Bedrohung begriffen?
Graf: Ich vermute, dass die Kirchen mit verstärkten internen Differenzierungen reagieren werden. Vorstellbar ist, dass die konservativen Gruppen im deutschen Protestantismus größeren Einfluss auf die C-Parteien gewinnen und Moralkoalitionen bilden, die sich an den üblichen Themen wie Abtreibung, Rechte von Homosexuellen und Grenzen der Forschungsfreiheit organisieren
Also Richtung USA?
Graf: Nicht in der Dimension, aber in die Richtung – ja!
Dann werden die christlichen Kirchen fundamentalistischer?
Türcke: Ja, wenn es naturwüchsig läuft, dann geht es in Richtung fundamentalistischer Verschärfung. Konzentration auf das Zentralgeschäft heißt die Losung – und das heißt Mission, Verkündigung, harte Lehrsätze, die den Leuten Halt geben sollen. Und all die schönen Seitengeschäfte, wie zum Beispiel die evangelischen und katholischen Akademien, werden eingespart. Es gibt eine starke Tendenz dahin – aber es kann auch Gegenbewegungen geben …
Graf: Es ist schwer abzuschätzen, wie diese Institutionen auf Dauer mit dem Polarisierungsdruck umgehen werden. Denn sie können ihre Konflikte nicht immer pragmatisch durch formale Rationalität lösen, weil sie ja permanent durch Wertrationalität definiert sind.
Türcke: Diese Wertrationalität ist doch selber hochgradig pragmatisch und instrumentell gedacht. Es geht doch darum, was an überkommenen Lehren noch aufrechterhalten wird, damit die Klientel Halt findet, und was nicht aufrecht erhalten wird, weil die Klientel sonst wegläuft.
Graf: Noch? Was bedeutet „noch aufrechterhalten“? Das ist eine fragwürdige Perspektive, weil sie von Zerfall ausgeht.
Herr Türcke, welche Rolle spielt dabei denn die Religionskritik?
Türcke: Ich fürchte, eine zwiespältige. Die Aufklärung hat bei den christlichen Religionen einen Selbstimmunisierungsprozess in Gang gesetzt. Die Theologie, die mit den Wassern der Aufklärung gewaschen ist, hat sich ja in wunderbarer Weise gegen die Religionskritik versucht zu immunisieren. Das darf man nicht unter den Teppich kehren.
Graf: Das möchte ich jetzt gern genauer wissen.
Türcke: Na, Sie exerzieren es doch vor. Sie argumentieren doch brillant, Herr Graf.
Graf: Sie dürfen nicht vergessen, dass die populäre Religionskritik in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts damals ein religiöses Laboratorium stimuliert hat.
Türcke: Und was beweist das?
Graf: Dass die Rationalität, die Sie mit dem Begriff Religionskritik verbinden, selbst hochgradig ambivalent ist, weil sie in religiös-affirmative Positionen überführt werden kann. Zum Nietzsche-Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts gehören all diese Wunderprediger und Wunderheilern. Heute ist das Bild ähnlich. Es ist doch irritierend, was intelligente Menschen für einen Stuss glauben. Wenn Sie in eine Bahnhofsbuchhandlung gehen, um ein vernünftiges Suhrkamp-Taschenbuch zu kaufen, dann müssen Sie einen riesigen Stapel Esoterik passieren. Das ist der literarische Religionsmarkt der Gegenwart.
Ist das denn schlimm? Die Leute lesen diesen esoterischen Humbug, sie glauben sogar daran, aber das hat keinen Einfluss auf ihr praktisches Leben.
Graf: Vielleicht ist es okzidentales Vorurteil, dass ein Individuum nur einen religiösen Glauben hat, der auch noch eine kohärente Lebensführung prägt. Wir haben es eher mit pluralen religiösen Identitäten zu tun. Zum Beispiel heiraten derzeit 60 Prozent der jungen Japaner christlich, obwohl in Japan nur 3 Prozent Christen sind. Die meisten dieser christlich verheirateten Japaner werden wohl eines Tages eine buddhistische Beerdigung anstreben. Sie haben offenbar keine Problem damit Shintoismus, Christentum und Buddhismus so zu integrieren, dass es für sie lebensgeschichtlich kohärent ist.
Ist das gut oder schlecht?
Graf: Es zwingt uns, unsere Vorstellungen von Religion grundsätzlich zu überprüfen.
Aber die Patchworkspiritualität, die ja auch hierzulande angesagt ist, ist doch nichts anderes als Wellness-Religion.
Türcke: Genau. Das ist die religiöse Form der Ich-AG, völlig individualisiert, abgeschottet gegen gesellschaftliche Ansprüche. Das ist ein postmodernes Phänomen, es gibt Aufschluss über bestimmte psychische Befindlichkeiten.
Graf: Für die Kirchen steckt darin ein Problem. Den Amtskirchen wird selbstverständlich zugemutet, einen großen Teil der öffentlichen Solidaritätsleistungen zu erbringen. Caritas und Diakonie sind nach dem Staat der zweitgrößte Arbeitgeber in diesem Land. Und bei den neuen Religionen? Nichts. Kein soziales Engagement.
Nehmen diese Patchworkreligionen denn zu? Und muss die Amtskirche diese Konkurrenz auf dem Markt fürchten?
Graf: Es handelt sich interessanterweise weniger um Konkurrenz. Denn das Esoterische wandert massiv in die Amtskirchen ein. Gehen Sie doch mal zum Katholikentag oder zum evangelischen Kirchentag – nichts, was Sie nicht mit christlichen Symbolbeständen verbinden können. Eine gut untersuchte Gruppe sind kirchentreue Katholikinnen in der Schweiz, die Sonntag für Sonntag zur Messe gehen. Unter diesen frommen Frauen nimmt kontinuierlich der Reinkarnationsglaube zu. Doch wie baut man Reinkarnationsglauben in eine klassische katholische Eschatologie ein? Das ist extrem schwierig, aber offenbar möglich.
Was bedeuten diese Patchworkreligionen für den Monotheismus?
Türcke: Das läuft auf einen neuen Polytheismus heraus.
Graf: Eher auf einen Polytheismus, in dem viele harte Monotheismen koexistieren. In den USA gibt es zum Beispiel Farbige, die einen farbigen Spezialgott haben, die farbige Christologien mit hohen Auflagen schreiben. Wir haben es also mit einem Pantheon von Monotheismen zu tun. Denken Sie an die religiöse Trauer nach 9/11, an den Gottesdienst im Yankee-Stadion, wo die bizarrsten Formen zutage traten. Aber alle Beteiligten teilten das präreflexive Bewusstsein, dass es um dasselbe Heilige, um denselben Gott geht, und zwar den Gott der Amerikaner. Dieser Gott ist national codiert. Es gibt also ein Zusammenspiel von zivilreligiösen Elementen, klassisch jüdischem, christlichem und islamischem Monotheismus. Hinzu kommen die Gruppenreligionen – etwa der ikonisierte, schwule Feuerwehrmann von New York, um den ja ein wahrer Heiligenkult aufgebaut wird.
Daneben wird in den Vereinigten Staaten der christliche Fundamentalismus stärker.
Graf: Weil das Harte auf dem Religionsmarkt etwas Interessantes bietet. In Zeiten der permanenten Verunsicherung und des permanenten Wandels bieten Ihnen harte Glaubenswelten starke kollektive Identität. Sie geben zwar ein Stück weit ihre Reflexionsfähigkeit an der Kirchentür ab – und das wollen wir als Intellektuelle nicht –, aber Sie erhalten dafür ein stabiles Gehäuse von letztverbindlichen klaren Orientierungen. Harte Religion fordert viel, aber sie gibt auch viel. Schauen Sie sich hingegen die Evangelische Kirche in Deutschland an, da können Sie religiös fast alles machen. Das ist auf einem Markt etwas ganz Schwieriges. Auch die taz überlebt mit einem klaren Profil.
In den USA scheint Gott im Weißen Haus zu wohnen. Bei uns geht es zum Glück säkularer zu. Wo ist denn Gott bei uns?
Graf: Viele Menschen antworten, Gott ruht in meinem Herzen. Es gibt also viel präreflexive, unmittelbare Frömmigkeit. Das muss man als Lebenshaltung ernst nehmen.
Türcke: Entschuldigen Sie – niemand erlebt Transzendenz unmittelbar. Wer sagt, dass er Transzendenz erlebt, interpretiert bereits. Es gibt starke und schwache, aber keine unmittelbaren religiösen Gefühle. Sobald man sagt „Ich habe ein religiöses Gefühl“ ist dies eine gedankliche Auslegung …
… und die ist mittelbar, weil sie mit Geschichte und Biografie zusammenhängt …
Türcke: Ja, allerdings.
Graf: Kein Dissens. Religiöse Erfahrung ist kultur- und sprachspezifisch, darauf können wir uns verständigen. Damit ist aber der Begriff der religiösen Erfahrung oder Emotion nicht aus der Welt.
Türcke: Nein, das nicht. Wer sagt, Gott wohnt in meinem Herzen, der meint das wahrscheinlich genau so. Aber es ist eine Interpretation – und diese Interpretation ist wiederum eine Behauptung und Beteuerung. Das müssen wir leider festhalten.
Graf: Warum leider? Genau das Gleiche gilt doch auch für alles andere – den Staat, die Ehe …
Türcke: Entschuldigen Sie – der Staat existiert.
Graf: Ich habe den Staat aber noch nie gesehen. Ich sehe Rathäuser, Finanzämter und Fahnen …
Türcke: Na, das ist doch schon mal was.
Graf: Ja, und? Kirchen kann man auch sehen. Ich glaube, der Staat ist ein metaphysischeres Wesen als Gott.
Türcke: Zum Glück meinen Sie das nicht ernst. Es ist doch klar, dass wir es bei Gott mit einer hochgradig zweifelhaften und beteuerten Entität und beim Staat mit einer Institution und empirischen Realität zu tun haben, deren Existenz gar nicht zur Debatte steht.
Können wir aus Ihrem Dialog schließen, dass Sie, Herr Graf, an Gott glauben und Sie, Herr Türcke, nicht?
Graf: Ich würde gerne dreistufig antworten …
… gemäß der Trinität …
Graf (lacht): Nicht ganz. Zunächst muss man als Intellektueller den Gottesgedanken und das Wort Gottes einer permanenten Reflexionsarbeit unterziehen, schon um zu verhindern, dass die falschen Leute hier ein Deutungsmonopol etablieren. Zweitens hat der Satz „Ich glaube an Gott“ mit spezifischen religiösen Kulturkonstellationen zu tun. Im Sinne eines reflexiven, durch Aufklärungstraditionen geprägten, liberalen Protestantismus habe ich überhaupt keine Schwierigkeiten zu sagen „Ich glaube an Gott“. Aber ich möchte diesen Satz nicht uninterpretiert sagen. Es ist ein Unterschied, ob Sie diesen Satz als Glaubenbekenntnis in einer Kirche spreche oder auf dem freien Markt, wo sie Interpretationen erbringen müssen, die im anderen, genuin religiösen Kontext immer schon erbracht sind.
Und Sie, Herr Türcke?
Türcke: Ich glaube, dass wir vom Gottesgedanken nicht loskommen. Dieser Gottesgedanke hilft uns sehr, unsere Wirklichkeit zu verstehen und zu bewältigen. Aber der Gottesgedanke verbürgt in keiner Weise die Existenz Gottes.