: Heimatlos
ZEITDIAGNOSEN Diese Wiederentdeckung steht wirklich an: Kaum jemand zeichnete das „Antlitz seiner Zeit“ so hellsichtig wie der Feuilletonist, Romancier und unbändige Trinker Joseph Roth. Am 27. Mai jährt sich sein Todestag zum 70. Mal
■ Wilhelm von Sternburg: „Joseph Roth. Eine Biographie“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009, 559 Seiten, 22,95 €
■ Heinz Lunzer/Victoria Lunzer-Talos: „Joseph Roth. Leben und Werk in Bildern“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009, 280 Seiten (neue und erweiterte Ausgabe)
■ Joseph Roth: „Das Spinnennetz“. Hörbuch. Gelesen von Ulrich Matthes. Diogenes Verlag, Zürich 2009, 24,90 €
■ Joseph Roth: „Leviathan“. Hörbuch. Gelesen von Senta Berger. Diogenes Verlag, Zürich 2009, 19,90 €
■ Joseph Roth: „Werke in sechs Bänden“. Neue limitierte Sonderausgabe, hg. von Fritz Hackert und Klaus Westermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 6.108 Seiten, 198 €
VON WIEBKE POROMBKA
Es gehört zu den vielen seltsamen Wendungen, die die Literaturgeschichtsschreibung zu nehmen pflegt, dass noch immer das Stichwort vom Chronisten der Habsburger Monarchie fällt, wenn von Joseph Roth die Rede ist. Etikettiert als konservativer Melancholiker, kann er so allzu leicht in die peripheren Bereiche des Bücherregals geschoben werden. Und selbst dort, wo neben dem „Radetzkymarsch“ auch der Rest seines Romanwerks wahrgenommen wird, fehlt zumeist der Blick für das, was den größten Teil von Roths Schaffen ausmachte und was ihn, auch 70 Jahre nachdem er am 27. Mai 1939 an seiner unbändigen Trunksucht starb, zu einem Autor macht, von dem man auch für die Gegenwart und für das Schreiben über die Gegenwart etwas lernen kann. Joseph Roth war vor allem eins: ein hellsichtiger und sprachlich brillanter Kulturjournalist.
Besessener der Details
Das Feuilleton galt, damals wie heute, mehr als notwendiges Übel, mit dem Autoren ihren Broterwerb sichern konnten, denn als inhaltlich oder ästhetisch ernst zu nehmende Textform. Erst spät wurden deshalb die Feuilletons Roths aus den Archiven geholt und ediert. Schaut man sich Roths Feuilletons an, die erstmals 1919 in der Wiener Zeitung Der Tag erschienen und mit denen er spätestens 1924 als Redakteur der Frankfurter Zeitung zu einem der bestbezahlten Journalisten der Weimarer Republik wurde, dann muss man sich wundern, um welch esprit- wie ironiegeladene Prosastücke sich die Literaturgeschichte hier um ein Haar gebracht hätte.
Nie sind es die großen politischen Thesen, die Roth aufstellt. Roth ist Symptomatiker, ein Beobachter des Alltäglichen und seiner Paradoxien, ein Besessener des Details, der am Kleinen und Exemplarischen vorführt, was die Gesellschaft im Großen umtreibt. „Das Diminutiv der Teile ist eindrucksvoller als die Monumentalität des Ganzen“, erklärt Roth 1921 im Berliner Börsen-Courier: „Ich habe keinen Sinn mehr für die weite, allumfassende Armbewegung des Weltbühnenhelden. Ich bin ein Spaziergänger.“ Auch wenn das Pseudonym vom „roten Joseph“, mit dem er manche seiner Texte unterzeichnete, wohl nicht ganz so ernst gemeint war, Roth dachte und verstand sich stets als Linksintellektueller. Erst in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre, als die Lage in Deutschland immer bedrohlicher wurde und Roth bitter enttäuscht war von der Lethargie der linken Kräfte, änderte sich diese Haltung. Eine mehrmonatige Reise durch Russland, auf der Roth die grausame Realität der sozialistischen Utopie vor Augen geführt bekam, besiegelt seine fast religiöse Hinwendung zum vordemokratischen Kaiserreich und ließ seinen klaren Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse immer mal wieder ins Wanken geraten.
Das Prinzip des Feuilletons: das probeweise Entwerfen, das Behaupten und Zuspitzen dessen, was am nächsten Tag bereits wieder verworfen werden darf, war nicht nur Mittel des Zeitdiagnostikers Roth, es war und blieb bis zuletzt auch das Prinzip, mit dem er über sein eigenes Leben schrieb und sprach. Das hat es seinen Biografen nicht leicht gemacht.
Nur in der Fremde gehe es ihm gut, lautet eine der zahlreichen autobiografischen Auskünfte von Joseph Roth: „Wo es mir schlecht geht, dort ist mein Vaterland.“ Das schreibt Roth 1930, noch sind es fast drei Jahre hin, bis der Jude Roth Nazi-Deutschland wird verlassen müssen und seine Bücher verbrannt werden. Vielleicht war das Leben im Pariser Exil – eine Stadt, die Roth über alle Maßen liebte – tatsächlich gar nicht das Schlimmste, was ihm widerfahren konnte. Auch wenn die historischen Konstellationen, in denen sich der 1894 im galizischen Brody geborene Roth verfangen sollte, natürlich kaum fataler hätten sein können.
Rückhaltlos glauben sollte man zwar nichts von dem, was Roth über sein Leben geschrieben hat. Allzu viel ist erfunden, hingebogen oder gar im Alkoholrausch ersonnen. Dass Roth, der ewig Heimatlose, Getriebene, der seine Texte in Kaffeehäusern und Kneipen schrieb, eine Verbindung zwischen seiner topografischen und seiner mentalen Verfasstheit schlägt, scheint dennoch wie ein Schlüssel zu seinen Texten. Es gibt nur wenige Autoren, deren Sprache sich so unmittelbar der Umgebung anschmiegte, von der sie handelte, oder aber sich gegen diese sträubte. Und vielleicht gibt es deshalb auch nur wenige Autoren, deren Texte so seismografisch Auskunft geben über die eigene Verfasstheit und die Verfasstheit der Welt drum herum.
Metaphysisch verloren
Liest man etwa seinen frühen Roman „Das Spinnennetz“, findet man einen Autor, der in gehetzter, klirrend kalter Sprache bereits all jene Züge der Weimarer Gesellschaft entlarvt, die ein Jahrzehnt später in der Katastrophe des Nationalsozialismus führen werden: Antisemitismus, nationaler Chauvinismus, Karrierismus der zu kurz Gekommenen. Das westlich bürgerliche München ist hier der Handlungsort. Umso überraschender ist der fast magische, Kafka-verwandte Ton von „Hotel Savoy“, das nur ein Jahr später erscheint. Ein Hotel in Polen, in dem die vom Krieg Versprengten und Entwurzelten nur kurz Quartier nehmen wollen, um dann doch auf ewig zu bleiben, wird zum Bild der transzendentalen und ganz konkreten Obdachlosigkeit der Zwischenkriegsjahre, wie es fast allen Texten Roths untergründig mitgegeben ist. Eines aber, das vor allem die jüdische Heimatlosigkeit mitdenkt und der deshalb jene fast metaphysische Verlorenheit eingeschrieben ist. Ähnlich wie in der Erzählung um Mendel Singer, den von Schicksalsschlägen geschlagenen Juden in „Hiob“, der seine Heimat in Galizien verlässt, um in Amerika das Glück zu finden.
Mehr noch sind es wiederum Roths Feuilletons, die von der eigenartigen topografischen Bedingtheit seines Schreibens zeugen. Seine Schilderungen rund um die Flanier-, Konsumier- und Amüsiermeile Kurfürstendamm, die ihm stets suspekt blieb, auch wenn er hier Quartier bezog, versieht er mit distanzierter, zuweilen süffisanter Ironie. Wenn er über Ostberliner Arbeiterviertel schreibt, über das städtische Obdachlosenasyl in Prenzlauer Berg, über das Vormundschaftsamt in der Landsberger Allee, über ein Asyl für Künstler oder das Polizeipräsidium am Alexanderplatz, dann ist seinen Texten ein nachgerade schmerzhaftes Mitleiden eigen.
Vor allem das Scheunenviertel nördlich des Alexanderplatzes zieht Roth an. Hier, in der Halbweltgesellschaft aus Schiebern, Zuhältern und kleinen Gaunern, in den Asylen und in den Notunterkünften von Reisenden, mag er die Heimatlosigkeit wiedergefunden haben, die seine eigene Biografie grundierte. Romanhaft, mitunter tragisch und unheilvoll muten die Motive an, die sich durch sein Leben und Schreiben ziehen. Das Vaterland ist eins dieser Motive, vor allem aber der Wahnsinn: Einen Vater hat Roth zeitlebens entbehrt: Dieser ist, glaubt man den Quellen, geisteskrank geworden, als Roths Mutter mit Joseph schwanger war, und Jahre später in einer Anstalt gestorben, ohne dass Roth ihn je gesehen hätte. Wie doppelt katastrophal muss es angesichts dessen für Roth gewesen sein, als seine junge Frau Friederike Reichler, Friedl, mit der er seit 1922 verheiratet ist, psychisch erkrankt. Zunächst ist von häufigen Lungenentzündungen die Rede, dann von Angstzuständen, wenn Roth wieder einmal auf Reisen ist und die junge Frau allein lässt. Roth gibt sie zunächst in die Obhut von Freunden. Schließlich wird sie 1930 mit der Diagnose auf Schizophrenie in die Psychiatrie eingeliefert.
„Wir sind arm, aber Menuchims Seele verkauf ich nicht“, erklärt der Jude Mendel Singer in „Hiob“, als seine Frau den schwachsinnigen, epileptischen Sohn fortgeben will. „Man wird nicht geheilt in fremden Spitälern.“ Roth hat anders entschieden. Er musste wohl. Solange es die politischen Umstände zuließen, hat er Friedl durch seine Honorare, um die er stets wütend verhandelte, die bestmöglichsten Heilanstalten finanziert. Als ihm ab 1933 der deutsche Zeitungsmarkt abgeschnitten wurde, sollte das immer schwieriger werden. Den Anblick der verwirrten, bald von Medikamenten aufgeschwemmten Frau indes konnte er schon bald nicht mehr ertragen; nur wenige Male hat er Friedl besucht. Es muss die furchtbare Frage nach der eigenen Schuld gewesen sein, die Roth stets begleitet hat.
Glückliche Wendungen
Menuchim, der stumpfsinnige Krüppel, der in „Hiob“ irgendwann dann doch von der Familie zurückgelassen wird, steht am Ende des Romans plötzlich wieder vor der Tür: als bildhübscher und erfolgreicher Musiker. Solch glückliche Wendungen wird es in Roths Leben nicht geben. Friedl wird 1940 als Insassin einer Heilanstalt durch das nationalsozialistische Euthanasieprogramm ermordet.
Roth wird das nicht mehr erleben. Als er am 23. Mai 1939 vom Selbstmord Ernst Tollers erfährt, erleidet er einen Zusammenbruch. Er stirbt vier Tage später in einem Pariser Armenhospital, von Krämpfen geschüttelt, nachdem man ihn ans Bett gefesselt und ihm jeglichen Alkohol, nach dem er brüllte, verweigert hat. An seinem Grab auf dem Friedhof Thiais in der Pariser Banlieu soll sich ein groteskes Schauspiel geboten haben: Jüdische Trauergäste empören sich über die Einsegnung durch katholische Priester, gewürdigt wird „der treue Kämpfer der Monarchie“, während Egon Erwin Kisch rote Nelken auf den Sarg wirft.
■ „Joseph Roth im Exil 1933 bis 1939“, Ausstellung in der Bibliothek des Gasteig, München, noch bis zum20. Mai. Katalog 20 €