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Archiv-Artikel

EU-BEITRITTSGESPRÄCHE: IN DER TÜRKEI BLIEB SPONTANER JUBEL AUS Regierung nüchtern, Volk ungläubig

Sosehr der Ausdruck „historisch“ in der Gefahr steht, inflationär missbraucht zu werden, für die Entscheidung der EU vom letzten Freitag wird er zu Recht benutzt. Der Türkei Beitrittsverhandlungen anzubieten, ist eine historische Entscheidung. Dabei blieb es am Wochenende still in den Städten und Dörfern der Türkei. Keine landesweiten, spontanen Jubelfeiern, aber auch keine besorgten Gespräche über die ungewissen Aufgaben der nahen Zukunft – die meisten Menschen vom Bosporus bis zur iranischen Grenze glauben noch immer nicht wirklich daran, dass dieser Beschluss tatsächlich Konsequenzen für sie haben wird.

Dabei hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Die seit mehr als 100 Jahre schmerzlich gestellte Frage nach der eigene Identität ist dabei, beantwortet zu werden: Die Türkei und die Türken sind ein Teil Europas. Und es spricht für die derzeitige türkische Regierung, dass sie angesichts des Erfolgs in Brüssel jetzt nicht in großes Triumphgeheul ausgebrochen ist, sondern bemerkenswert nüchtern darauf hinweist, welche Schwierigkeiten nun tatsächlich erst auf das Land zukommen.

Auf allen Feldern der Reformpolitik bis hin zu den schwierigen Fragen der echten Aussöhnung mit den Kurden, eines wirklichen Friedens auf Zypern und einer ehrlichen Aufarbeitung der eigenen Geschichte steht das Land vor einer neuen Situation. Keine türkische Regierung kann mehr behaupten, die Fragen und Forderungen aus den EU-Mitgliedstaaten dienten nur dazu, einen Vorwand für die Ablehnung der Türkei zu finden – die Auseinandersetzung muss nun ohne taktische Winkelzüge stattfinden.

Keine andere Regierung vor ihr hatte aber auch so viel Gestaltungsspielraum. Die Opposition sieht so hilflos aus wie noch nie, und auch das Militär wird sich hüten, den Politiker, der dabei ist, der Türkei den großen Traum von Europa zu erfüllen, noch einmal zu sabotieren. Nach den Atatürk’schen Reformen in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts, die das Fundament für den säkularen, nach Westen ausgerichteten Staat von oben gelegt haben, beginnt nun die Modernisierung auch von unten. Die Türkei wird in fünfzehn Jahren ein anderes Land sein. JÜRGEN GOTTSCHLICH