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Archiv-Artikel

Das süße Mädel kalt gefroren

Das Schlimmste ist nicht mehr der Liebestod, sondern unerfülltes Weiterleben: Tina Lanik inszeniert Arthur Schnitzlers „Liebelei“ am Deutschen Theater als Sehnsuchtspathologie, die dem Hunger nach Leben nur Aussichtslosigkeit bescheinigt

Ja, wo sind sie eigentlich, die Rosen, die von der Decke fallen?

Der Abend fing mit dem Programmheft an. Statt der handelsüblichen Textsammlung zum verhandelten Thema bekam man einen Stapel mit bunten Postkarten in die Hand gedrückt. Vor dem Hintergrund unterschiedlichster Rosentapeten waren darauf einzelne Sätze aus Arthur Schnitzlers Frühwerk „Liebelei“ abgedruckt, die nicht nur optisch eine Augenweide waren, sondern so losgelöst aus Stück und Kontext plötzlich aphoristische Messerschärfe entwickelten. „Wo sind denn die Rosen, die von der Decke herunterfallen?“, war da beispielsweise über dem satten Rot wilder Heckenrosen zu lesen.

Eine unscheinbare Frage, die erst langsam ihre Sprengkraft entfaltete. Sie fällt in Akt eins dieses Dramas von 1894: Zwei junge Wiener Herren wollen sich mit zwei Vorstadtmädchen amüsieren. Im Vorfeld ihrer amourösen Pläne versuchen sie, die beiden mit gewissen Dekadenzen des großbürgerlichen Lebens zu beeindrucken: ein opulentes Diner, Champagner, Rosen und viele schöne Worte inklusive. Die harmlos naive Frage nach den Rosen besitzt das Zeug zur Lebensfrage schlechthin. Ja, wo sind sie eigentlich, die Rosen, die von der Decke fallen? Das mag sich so mancher fragen, dessen graues Leben nicht mit den Träumen in Deckung zu bringen ist, die er von diesem Leben hat.

Vor hundert Jahren führte der Wiener Arzt und Dramatiker Arthur Schnitzler vor, wie leicht ein diffuser Lebenshunger in tödliche Missverständnisse über die Liebe führen kann. Objekte der Demonstration sind unter anderem ein junger Student und Reserveoffizier, der eine verheiratet Frau liebt und ein nebenbei junges Vorstadtmädchen verführt, das bei Schnitzler unter der Kategorie „süßes Mädel“ firmiert. Am Ende wird Fritz vom Ehemann seiner Angebeten im Duell erschossen, und Christine, das süße Mädel, nimmt sich an seinem Grab das Leben. Denn mit der Erkenntnis, dass der Geliebte für eine andere gestorben ist, will sie nicht weiterleben.

Inzwischen sind die Standesfragen, die das Stück verhandelt, längst abgehakt und die süßen Mädel schon lange ausgestorben. Übrig geblieben ist ein seltsam erstickt wirkender Lebenshunger, der alle Figuren in Tina Laniks Inszenierung in unterschiedlichste Formen von Unglück treibt. Ein Unglück, deren schlimmstes heutzutage nicht mehr der Tod aus unglücklicher Liebe, sondern das unerfüllte Weiterleben ist.

Folgerichtig verwehrt die Regisseurin ihrer Christine den Selbstmord am Schluss und lässt sie stattdessen desillusioniert weiterleben. Auf einer leeren Bühne – gestaltet von Magdalena Gut –, deren Wandpaneel das romantisierende falsche Biedermeier des Kammerspiel-Interieurs zitiert, treten vier junge Leute zur erotischen Versuchsanordnung an: die Männer als verquälte Hedonisten, die schon vom puren Kontakt mit Gefühlen überfordert sind und auch in ihren Kostümen von Su Sigmund Schnitzlers Zeiten näher stehen als die beiden jungen Frauen. Die sind ganz von heute: und zwar nicht nur mit ihrer Kleidung, sondern in der Unbedingtheit, mit der sie ihren Lebenshunger zu stillen versuchen. Isabel Schosnig als Mizi ist von Commonsense und gesundem Egoismus beflügelt, während Aylin Eseners Christine ihr Heil in den Abgründen ihrer Gefühle sucht. In der Regie setzt Tina Lanik auf den Purismus karger Posen und auf schmucklose Arrangements. Sie präsentiert Schnitzlers Stück als Sehnsuchtspathologie mit ungewissem Ausgang, die dem Hunger nach Leben eine grundsätzliche Aussichtslosigkeit bescheinigt. Gelegentlich lässt Lanik ihre Schauspieler dabei etwas zu modisch thalheimern, tänzeln und in kalten Sätzen gefrieren, bis die tiefgefrorenen Posen von romantischem Klavierspiel zerrissen werden. Doch sie überzeugt mit einer präzisen Sprachchoreografie: mit der Art, wie sie ihre Schauspieler jeden Satz einzeln im Mund umdrehen lässt, durch manchmal lange Pausen, bis man fast körperlich spürt, wie jemandem das Herz zerspringt. Zu loben ist außerdem das großartige Ensemble, allen voran Aylin Esener, Isabel Schosnig und Christian Grashof.

Wieder am 27. 12., 30. 12., jeweils 20 Uhr, Deutsches Theater, Schumannstraße 13 a, Mitte