Die blonde Fuge

BACH UND MENDELSSOHN Eine Ausstellung in Eisenach zeigt, wie die Nazis Musik für ideologische Zwecke einspannten und die beteiligten Wissenschaftler Nachkriegskarriere machten

Selbst an Bachs weitgehend lateinischem Meisterwerk „Magnificat“ vergriffen sich die Nazis. Zwecks Stärkung der Volksgemeinschaft war fortan vom „unsterblich wahren deutschen Wesen“ zu singen

VON PHILIPP GESSLER

Da ist zum Beispiel Wolfgang Boetticher. Der Musikwissenschaftler hielt bis zum Wintersemester 1998/99 in Göttingen Vorlesungen. Habilitiert worden war er zwei Jahre nach Endes des Zweiten Weltkrieg ebendort. Boetticher lehrte auch an den renommierten Universitäten in Cambridge und Oxford, war anfang der Siebzigerjahre in Göttingen Dekan der Philosophischen Fakultät. Und es gab da noch etwas: Von 1939 an wirkte er am amtlich-antisemitischen „Lexikon der Juden in der Musik“ mit, später war er Mitarbeiter im „Sonderstab Musik“ des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg. Unter Leitung von Musikwissenschaftlern konfiszierte diese Nazi-Organisation die Hinterlassenschaften der deportierten Juden im besetzten Teil Europas. Über 6.000 Klaviere, Flügel, Cembali und Spinette rollten in Güterwaggons ins Reich.

Es sind Geschichten wie diese, die eine jüngst angelaufene Ausstellung im Eisenacher Bachhaus zu einem Ereignis machen. „Blut und Geist“ heißt die Schau, die eher klein ist und etwas zu textlastig geraten ist. Ziemlich unspektakulär kommt sie auch daher. Auf den ersten Blick scheint die Ausstellung „nur“ von der Rezeption der Musik von Johann Sebastian Bach und von Felix Mendelssohn Bartholdy zwischen 1933 und 1945 zu handeln. Doch hier geht es um mehr.

Musik und Rasse

Der christlich-„arische“ Bach wurde, knapp gesagt, von den Nazis in den Himmel gehoben und instrumentalisiert. „Die Fuge ist blond und blauäugig“, schrieb etwa der Musikhistoriker Richard Eichenauer in seinem Nazi-Elaborat „Musik und Rasse“. Dagegen wurde Mendelssohn, dessen 200. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird, ob seiner jüdischen Herkunft ignoriert oder in den Schmutz gezogen. Die Brutalität dieses amtlich vorgeschriebenen Vorgangs ist schon erschütternd genug. Brisanz erhält die Eisenacher Ausstellung aber vor allem durch die vielen Zitate aus den Werken der Musikwissenschaftler (nur Männer), die sich an dieser Schandtat beteiligten – und dennoch ihre Karriere nach 1945 meist bruchlos fortsetzen konnten.

Das deutsche Wesen

Das zeigt ein Blick etwa auf das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ in Eisenach. Hier tilgte man in deutschchristlicher Absicht etwa aus alten Kirchenliedern alttestamentlich-jüdische Bezüge. So wurde aus der Zeile „Das Röslein, das ich meine, davon Jesaja sagt …“ aus dem uralten Weihnachtslied „Es ist ein Ros entsprungen“ die Zeile: „Das Röslein, das ich meine, davon die Kunde sagt …“. Ähnlich machte es die „Reichsstelle für Musikbearbeitungen“, die im Propagandaministerium von Joseph Goebbels angesiedelt war. Dort wurden „jüdische Begriffe“ aus Bachs Kantaten und Motetten beseitigt. Selbst an Bachs weitgehend lateinischem Meisterwerk „Magnificat“ vergriffen sich die Nazis. Zwecks Stärkung der Volksgemeinschaft war fortan vom „unsterblich wahren deutschen Wesen“ zu singen.

Ab 1939 betrieb am Eisenacher Umfälschungsinstitut der Chordirigent und Komponist Erhard Mauersberger (1903–1982) die Anpassung an die Zeitläufte. Das schadete ihm nicht. 1946 wurde er Professor an der Musikhochschule Weimar. Von 1961 bis 1972 wirkte er als Thomaskantor in Leipzig, ein Nachfolger Bachs auf dieser Stelle. In ein Dilemma kam Mauersberger angesichts des antisemitisch gefärbten Antizionismus der DDR im Jahr 1970. Gesungen wurde in Leipzig unter seiner Leitung die Bach-Motette „Singet dem Herrn ein neues Lied“. Dumm nur, dass es dort in der zweiten Zeile heißt: „Israel freue sich.“ Die Lösung des cleveren Herrn Mauersberger: Er ließ einfach das Wort „Israel“ nicht singen. Ach ja, übrigens hatte er schon 1968 den Vaterländischen Verdienstorden der DDR in Bronze erhalten.

Ähnlich flexibel und hoch geehrt beendete der Musikwissenschaftler Erich Valentin (1906–1993) sein Leben in Westdeutschland. In seinem Machwerk „Ewig klingende Weise“, erschienen in Regensburg 1941, sind solche Sätze über Mendelssohn zu lesen: „Judentum hieß der Fremdling, der sich auf dem Umweg über die Weltanschauungslehre der Aufklärung den Zutritt in die ihm wesensfremde Welt verschafft hatte. Und das Geld war zur gestaltenden Kraft geworden. Der Fremdling verdrängte mit satanischem Eifer den Besitzer von Grund und Haus seiner Väter.“ So wollte Valentin das Problem lösen, dass ausgerechnet der „Jude“ Mendelssohn den „arischen“ Bach wiederentdeckt hatte, und zwar mit der spektakulären, einem Staatsakt gleichenden Aufführung der Matthäuspassion 1829 in Berlin. Bach war bis dahin nur noch in Liebhaberkreisen gespielt worden. Nach dem Krieg wurde das NSDAP-Mitglied Valentin Professor für Musikwissenschaft in München. Im Jahr 1971 erhielt er den Bayerischen Verdienstorden, 1987 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

Die Schau in Eisenach rechnet zudem kurz und trocken mit zwei Darlings der westdeutschen Musikszene ab. Sie erinnert daran, dass der Dirigenten-Gott Herbert von Karajan (1908– 1989) seit dem April 1933 NSDAP-Mitglied war. Im besetzten Frankreich dirigierte er im Dezember 1940 mehrere Propagandakonzerte, gegeben wurde die h-Moll-Messe Bachs. Und das Horst-Wessel-Lied. Das sei damals Routine gewesen, erklärte Karajan später.

Schäbige Wissenschaft

Dem Komponisten Carl Orff (1895–1982), Schöpfer der „Carmina Burana“, waren 5.000 Reichsmark ausreichend, um einen von den Nazis erwünschten Ersatz für Mendelssohns „Sommernachtstraum“ zu schreiben, der in Deutschland trotz allem sehr populär war. Bis in die Achtzigerjahre verbreiteten Standardwerke der Musikgeschichte dennoch die latent antisemitische Mär, Mendelssohn sei „Meister der nur ‚schönen‘ Form“, ja seinen Werken wohne „zumeist eine Glätte, die unbehaglich wirkt“, inne – so zu lesen im „Großen Konzertführer“ von Otto Schumann (1897–1981). Lediglich die krassesten judenfeindlichen Aussagen erlaubten sich die Wissenschaftler nicht mehr. Sonst blieb alles beim Alten.

Kleiner Nachtrag: Im KZ Dachau gab es ein Häftlingsorchester, das unter anderem bei Folter und Hinrichtungen spielen musste. Ein Programmzettel in der Schau zeigt, dass es am 1. Juli 1944 Bachs Suite Nr. 3 für Violincello gegeben hat. Vor der Wachmannschaft von Auschwitz erklang etwa zur gleichen Zeit Mendelssohns Violinkonzert in e-Moll. Zum letzten Mal im Nazireich.

■ „ ‚Blut und Geist‘. Vereinnahmung, Missbrauch, Ausmerzung: Bach, Mendelssohn und ihre Musik im ‚Dritten Reich‘ “. Bachhaus Eisenach, bis 8. November