: Prügel ohne Ermäßigung
AUS BERLIN JAN ROSENKRANZ
„Planmäßig: 20:20 Uhr“ steht auf der Anzeigetafel. „Erwartet: 20:15 Uhr“, heißt es daneben. Man könnte es für ein Wunder halten. Könnte, wenn die Tafel an einem Bahnsteig hinge und nicht an Gate 8. Also kein Wunder, sondern eine Vorlage für diesen Mann, der in wehendem Mantel den Wandelgang des Flughafens Berlin-Tegel betritt. Diesen Rächer der Bahnkunden, den Paten aller Bahnwütigen, den Autor des „Bahnhasserbuchs“. Er müsste nur noch verwandeln, brauchte bloß in Richtung Anzeigetafel zu zielen und könnte losschießen: dass es eben anders gehe, besser als bei der Deutschen Bahn. Aber das Erste, was Claus-Peter Hutter sagt, ist dieser erstaunliche Satz: „Ich bin überhaupt kein Bahnhasser.“
Ganz im Gegenteil, sagt er, er liebe die Bahn, und überhaupt, echte Bahnhasser gebe es gar nicht, das seien alles geprellte Liebhaber. Und bevor man sich von diesem, ja, Schock erholt hat, fegt dieser Mann mit dem silbrigen Rollkoffer in Richtung Expressbus und sagt dann doch noch: „Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Bahn ihre Kunden gar nicht haben will.“
Wenn Hartmut Mehdorn Verlautbarungen über seine Deutsche Bahn AG in die Welt hinausschickt, klingt das etwas anders. Dann fallen Worte wie „fantastisch“ und „Erfolgsgeschichte“ und „fortschreiben“. Und da ist ja auch was dran. Die Bahn hat sich reformiert, hat jede Menge Schienen und Bahnhöfe saniert, hat die Zugflotte erneuert und wird mit 8,4 Milliarden Euro auch in diesem Jahr deutsche Investitionsmeisterin.
Aber es hilft alles nichts, die Kunden meckern und klagen über die Bahn wie über kein anderes Unternehmen. Und jetzt will der Konzern auch noch die Investitionen für die nächsten vier Jahre drastisch zurückfahren. Der Aufsichtsrat soll auf seiner heutigen Sitzung beschließen, dass 141 Projekte verschoben, reduziert oder storniert werden – weil der Bund die Mittel kürzt, weil die Bahn schwarze Zahlen braucht, weil sie auf Kunde bleib weg an die Börse will.
Der Flughafenbus rauscht durch das abendliche Berlin, und Claus-Peter Hutter kommt zur Sache. Man müsse sich fragen, wieso in seinem Bekanntenkreis alle so eine Wut auf die Bahn haben, sagt er und würgt mit der Hand seinen Hals. Darum habe er dieses „Büchle“ quasi schreiben müssen, und das, obwohl er als Präsident der Stiftung Euronatur und Chef der Akademie für Natur- und Umweltschutz Baden-Württemberg eigentlich genug zu tun hat.
Aber es hört ja nie auf. Es gibt ja ständig neue Unerfreulichkeiten. „Wo auch immer ich in den letzten Wochen mit dem Zug gefahren bin, war die Hälfte der Toiletten dicht“, sagt er. Vielleicht waren sie kaputt oder dreckig, weil man am Reinigungspersonal gespart hat, warum auch immer, es ist ihm egal. Es ist jedem egal, der durch den Zug irrt und fast irre wird, weil er muss, aber nirgends kann.
Und während sich der Bus langsam dem Bahnhof Zoo nähert, gerät Claus-Peter Hutter richtig in Fahrt. „Es ist eine nationale Tragödie!“, ruft er durch den Gang. „Saubere, funktionale und einigermaßen pünktliche Züge – das ist doch nicht zu viel verlangt.“
Die Bahn hat es schwer. Unter allen deutschen Konzernen hat sie den schlechtesten Ruf – gefolgt von anderen, die auf den Vornamen „Deutsche“ hören: Bank, Telekom, Post. Es liegt also nicht nur an Hartmut Mehdorn, auch wenn es um seinen Ruf nicht besser steht. Im Popularitätsranking deutscher Manager nimmt der Bahnchef zuverlässig den letzten Platz ein.
Wahrscheinlich könnte man diese Umfragen in einem kilometerlangen Autostau machen, die Leute würden trotzdem auf Bahn und Mehdorn schimpfen. Die Ansprüche werden eben nicht bescheidener, da können die Hausstatistiker noch so oft verkünden, dass ihre Bahn noch nie so was von pünktlich war wie heute, dass von täglich über 30.000 Zügen über 90 Prozent termingerecht, also mit weniger als 5 Minuten Verspätung, den Zielbahnhof erreichen.
„Manchmal habe ich den Eindruck, die Bahn kann machen, was sie will, die Kunden sind nie zufrieden“, sagt Stefan Becker. Er sitzt in einem Intercity-Restaurant im Bahnhof einer deutschen Großstadt vor einer großen Cola. Er arbeitet gerne bei der Bahn, es soll so bleiben, und darum möchte er seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen.
Stefan Becker ist einer von knapp 1.000 Zugchefs. Er macht die Durchsagen, er weist die Zugbegleiter an, er kümmert sich, wenn es Probleme gibt. Probleme gibt es immer – und manchmal machen auch die Kunden welche. Da muss Becker trotzdem freundlich bleiben, und dann lächelt er beim Sprechen, aber manchmal hilft auch das nicht weiter. Er hat das Preissystem nicht erfunden. Er kann nichts dafür, dass man im Zug nicht mehr mit EC-Karte zahlen kann. Er hat nicht entschieden, dass es bei unter einer Stunde Verspätung keinen Gutschein mehr gibt. Es ist nicht seine Schuld. „Doch die Prügel dafür müssen immer die Zugbegleiter einstecken.“
Natürlich wissen die Bahn-Chefs, was ihre Frontsoldaten aushalten müssen. Etwa 20 Prozent des Krankenstandes lassen sich auf „unzumutbare oder gewalttätige Kunden zurückführen“, heißt es aus der Bahn-Zentrale. Dafür bietet das Unternehmen Entspannungskurse an oder Deeskalationstraining, zumindest für viele.
Auf die Oberbahner ist Stefan Becker trotzdem nicht gut zu sprechen. Er kämpfe nämlich nicht nur an der Kundenfront, wie er sagt, auch aus der Chefetage gebe es Sperrfeuer. „Kostendruck, Gehaltsabsenkung, Personalabbau.“ Erst zum Fahrplanwechsel Anfang Dezember wurden wieder mehr als 300 Zugbegleiter eingespart. „Die machen jetzt was anderes, Fahrscheinautomaten erklären oder so“, sagt Becker. „Da gibt es ja auch Beschwerden.“
Beschwerden, Beschwerden, Beschwerden, und weil sich inzwischen sogar Beschwerden über die Bearbeitung der Beschwerden häufen, gibt es seit drei Wochen eine Instanz, bei der man sich auch darüber beschweren kann: die „Schlichtungsstelle Mobilität“ – eine Art Friedensrichter des Fernverkehrs, unabhängig von der Bahn. 25 Beschwerden gehen am Tag ein, aber helfen können die Schlichter auch nicht immer. Bei den Tarifen zum Beispiel lässt die Bahn nicht mit sich handeln, auch wenn viele Kunden einfach nicht verstehen, warum sie ein Plan&Spar-Ticket am Reisetag nicht mehr umtauschen können, weshalb sich die Bahncard jetzt automatisch um ein Jahr verlängert und wieso man Reisegutscheine nur am Schalter einlösen kann und nicht online. Das ist dann einfach so.
Irgendwas ist immer. Vielleicht brauchen die Leute einfach etwas zum Schimpfen, egal ob mit oder ohne Grund. Da geht es der Bahn nicht besser als dem Wetter – mal ist es zu heiß, mal zu kalt, mal zu nass, mal zu trocken. Jeder hat eine Meinung, niemand ist zufrieden: So eine Saubahn heute wieder! Oder: Wann wird es mal wieder richtig sauber?
Vielleicht liegt es auch daran, dass dieses Schienenmonster nicht zu beherrschen ist, dass es einfach zu groß ist für Perfektion: Fast 5 Millionen Menschen befördert es täglich über seine Tentakeln, die verzweigter sind als das weltweite Flugnetz. Fast 5 Millionen, das sind in zehn Tagen so viele wie bei der Lufthansa im Jahr.
„Bei der Bahn begegnen Sie immer wieder dem Gesetz der großen Zahl“, sagt Achim Stauß. „Wenn es da ein Problem gibt, haben Sie unter Umständen gleich ein paar tausend Betroffene.“ Und den ein oder anderen Bahnhasser mehr. Aber so würde Achim Stauß das nie sagen, denn er ist einer von mehr als zwei Dutzend Sprechern der Bahn, ein freundlicher Riese mit Miniaturbahnhofsuhr am Handgelenk.
Auf dem runden Tisch in seinem Büro im Bahn-Hochhaus am Potsdamer Platz in Berlin liegt ein dreieckiger Kasten, der ein bisschen wie eine Videospielkonsole aussieht und aus dem ein „Hallo?“ dringt. „Ja, Herr Wöbbeking, wir hören Sie gut“, sagt Stauß. Die Leitung steht und endet in Bergkamen, am Rande des Ruhrgebiets, am Telefon von Hans-Joachim Wöbbeking.
Wöbbeking ist Bahnkunde. Einer, der nicht nur meckert, sondern auch etwas verbessern will. Darum ist er Sprecher des 32-köpfigen Kundenbeirats geworden, den sich das Unternehmen seit dem vergangenen Sommer hält. Er ist das einzige Mitglied, das namentlich bekannt ist. Man will sie vor der Beschwerdeflut schützen. Und wahrscheinlich auch ein bisschen vor der Presse. Man kann den Kundenbeiratssprecher darum auch nicht persönlich sprechen, jedenfalls nicht ohne Gouvernante der Bahn-Pressestelle.
„Es geht ja eigentlich darum“, tönt Herrn Wöbbekings Stimme aus dem Kasten, „dass sich die Bahn die Sorgen der normalen Kunden auch mal in aller Ruhe anhören kann.“ Als Rollstuhlfahrer vertritt er dabei die Interessen der Rollstuhlfahrer, andere vertreten die von Pendlern, Geschäftsleuten oder Familien. „Das sind alles Bahnverrückte, und die sehen, dass es bei aller Kritik auch vorangeht“, sagt Wöbbeking. Man könne eben nicht erwarten, dass die Bahn sofort all das aufholt, was vierzig Jahre lang vergessen wurde. „Aber leider gibt es ja auch noch die Presse, nicht wahr, und die Öffentlichkeit, die immer sehr schnell draufhaut – das ist nicht sehr hilfreich“, kommt es aus dem Kasten.
„Ja“, sagt Stauß und schaut etwas traurig, „zum Beispiel die Jungfernfahrt auf der neuen ICE-Strecke Berlin–Hamburg, das war ein großes Fest für eine große Leistung – und da blieb nun zufällig ein anderer Zug auf der Strecke liegen. Das überlagert die Berichterstattung natürlich enorm“, sagt Herr Stauß, und Herr Wöbbeking sagt: „Da gibt es nur hämische Freude, da wird die große Leistung gar nicht mehr gesehen.“
Vermutlich haben auch letzten Samstag etwa 90 Prozent aller Züge pünktlich ihr Ziel erreicht. Nur ist es leider so, dass auf der schnellen Strecke Berlin–Hamburg wieder ein ICE liegen blieb. Alle 600 Fahrgäste mussten aussteigen.