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Archiv-Artikel

„Vor jedem Gast hat ein Glas zu stehen – egal wie leer es ist“

Jetzt sinkt die Stimmung auch schon in den Kneipen. Neue Renner sind Leitungswasser und ein Schnitzel zu zweit. Götz Mields, Kellner in der legendären Berliner „Markthalle“, über die Gefährdung unserer wichtigsten Kulturinstitution

INTERVIEW SUSANNE LANG UND PETER UNFRIED

taz: Herr Mields, wir müssen dringend reden. Unsere Beziehung zu Kellnern ist nicht mehr so glücklich, wie sie war.

Götz Mields: Das könnte sein.

Liegt es an uns, den Gästen?

Sagen wir so: Die Kneipenkultur hat sich in letzter Zeit wirklich sehr verändert. Der finanzielle Druck ist gestiegen. Gäste haben das Gefühl, dass der Euro gleich viel wert ist wie die Mark, und erwarten daher eine überdurchschnittliche Leistung. Umgekehrt befördert die Gastronomie das neue Anspruchsdenken. Mittlerweile muss jede Kneipe eine ordnungsgemäße italienische Espressomaschine haben. Man legt mehr Wert auf gute Ernährung, auch wenn man nur ein paar Kröten ausgeben will.

Die Leute bestellen neuerdings Leitungswasser?

Ja. Das gab es früher nicht. Oder nur selten und von Leuten, die Kohlensäure nicht vertragen haben. Heute will man möglichst lange in Kneipen sitzen, aber die Rechnung klein halten.

Schüchtern Sie Leitungswasser-Besteller ein?

Nein, solange Gäste nicht nur Leitungswasser bestellen, habe ich damit kein so großes Problem. Das ist halt jetzt so. Früher hat man allerdings schon die Stirn gerunzelt.

Manche Kneipen haben eins damit. Sie setzen Leitungswasser für 80 Cent auf die Karte …

In der Form ist das verboten. Aber es stimmt schon, manche verlangen dann eine Glasreinigungsgebühr. Das ist natürlich auch aus Frust entstanden. Dieser Gast, der da sitzt, die Luft verbraucht hat und sich mit Leitungswasser voll laufen ließ – den kann man vielleicht verstehen. Er ist aber auch nicht wirklich hilfreich aus Sicht der Wirte.

Haben die Gäste denn wirklich kein Geld mehr? Oder reden wir über eine gefühlte Verarmung …?

Sie haben real weniger zur Verfügung, weil sie mehr Geld in ihre Zukunft investieren müssen.

Was folgt daraus?

Man spart an den Stellen, wo man kann: Gastronomie, Kino, Ausgehen im weitesten Sinn. Früher konnte oder wollte man sich immer sechs Gläser Bier leisten, jetzt nur noch vier. Das ist ein Drittel weniger!

Heulen sich Gäste über ihre Geldsorgen aus?

Ach, das kommt schon vor. Aber vielen ist es auch peinlich, sie kommen einfach nicht mehr. Früher traf ich die Leute auf der Straße und wusste, die werden heute Abend in die Kneipe kommen.

Und nicht nur ein Bier trinken?

Oh ja. Damals gab es noch richtige Trinkertische. Die haben sich wirklich getroffen, um zu saufen, acht, zwölf Leute. Der legendäre Tisch Heinz zum Beispiel; lauter Schwermaschinentransporter: die kamen regelmäßig um 21 Uhr angerollt mit ihrer ersten Runde Jägermeister, dann die zweite Runde Jägermeister, die erste Runde Bier hab ich dann auch schon mal ausgegeben.

Was ist aus Heinz geworden?

Neulich habe ich den zufällig getroffen, und er meinte, ganz trocken: Das können und wollen wir uns gar nicht mehr leisten.

Andere hätten das Geld, haben aber trotzdem das Gefühl, sparen zu müssen.

Ja, die sitzen dann ewig lange vor dem letzten Minimalschluck. Denn wenn sie ganz austrinken, haben sie das Gefühl, sie müssten entweder gehen oder nachbestellen.

Manche Kellner räumen diese Letzte-Schluck-Gläser ab.

Unmöglich! Vor jedem Gast hat ein Glas zu stehen, egal wie voll oder wie leer es ist. Egal, ob einer viel oder wenig konsumiert hat. Ein zweiter ganz ähnlicher Grundsatz ist, dass man die Teller erst dann wegnimmt, wenn der Letzte am Tisch aufgegessen hat.

Beim Speisen gibt es ja auch eine Neuheit: das Teilen. Ein Schnitzel zu zweit. Machen wir auch sehr gerne.

Damit habe ich überhaupt kein Problem. Ich biete es sogar gern an: Teilt doch, wenn es euch zu viel wird. Wenn die Leute kein Vertrauen zu mir haben als Kellner, zu wem sollen sie es denn dann haben?

Welche neuen Sparstrategien gibt es noch?

Na, die so genannte Pfeiferei zum Beispiel. Stammgäste, die abends am Tresen sitzen und trinken, erwarten oft, dass sie noch einen Schuss Bier gratis in ihr Glas kriegen. Das hat deutlich zugenommen.

Und am Ende bekommt man nicht mal Trinkgeld?

Das ist unterschiedlich, je nach Gasttyp. Aber klar gibt es diese Knauserer, die aus Prinzip kein Trinkgeld geben oder gönnerhaft 20 Cent …

Besser als gar keins?

Nein. Manchmal ist ganz, ganz wenig Trinkgeld schlimmer als gar keins. Das allerletzte ist, das Portemonnaie umzudrehen und das Kupfer dazulassen. Das geht gar nicht!

Dann werden Kellner unfreundlich?

Man muss sich unabhängig vom Trinkgeldverhalten machen. Hadern hilft ja nicht, da geht nur die eigene Stimmung runter. Trinkgeld ist ja eigentlich eine Geste des Gastes. Es drückt den Respekt vor der Arbeit aus.

Sind die Knausrigen mittlerweile in der Mehrzahl?

Ich sage mal: Die Leute gehen gewissenhafter mit ihrem Geld um. Früher wurde auch selbstverständlicher mal in guter Stimmung beim Bezahlen gesagt: Alles auf mich!

Und heute?

Lässt man sich wieder öfter bis auf das letzte Wässerchen genau getrennte Rechnungen geben.

Feiern die Leute auch bewusster? Beispiel Weihnachtsfeiern?

Die sind seltener geworden. Und wenn sie stattfinden, müssen die Mitarbeiter häufig ihr Essen selbst zahlen, nur die Getränke sind frei. Es herrscht nicht mehr diese Einstellung „Hau drauf, wer weiß, was kommt“.

Kann ein guter Kellner nichts daran ändern?

Man kann den Gästen ein gutes Gefühl geben, aber nicht wirklich Einfluss auf die Stimmung nehmen. Wenn die einfach nicht ausgelassen sein wollen …

dann macht es allen keinen Spaß mehr?

Na ja, eins gilt ja unverändert: Alkohol entspannt.

Geld entspannt auch.

Leute gehen nicht in die Kneipe, um unentspannt zu sein. Manchmal sieht man, wie sie beim Bestellen überlegen, ob und was sie sich leisten können. Wenn sie dann aber gute Ware für ihr weniges Geld bekommen, dann entspannen die sich sehr oft doch noch.

Es geht ja um die Qualität der Geselligkeit. Wir haben den Eindruck, dass wir uns alle in der Kneipe nicht mehr so gut miteinander amüsieren …

Vor zwei, drei Jahren waren alle ausgelassener, sorgloser – gerade, was die finanzielle Situation anging. Bis dann der große Traum der New Economy geplatzt ist.

Das Bedürfnis nach Geselligkeit könnte gerade deshalb auch steigen.

Ich beobachte jedenfalls, dass sich die Leute eher zurückziehen. Ein Gast, der oft bei uns gesessen und getrunken hatte, ein sehr geselliger Typ, ist in letzter Zeit öfter mal mit einer Plastiktüte voller Bierbüchsen unterwegs zum heimischen Fernseher. Das hat mich ein bisschen traurig gemacht. Viele Menschen, auch wenn sie noch Arbeit haben, sind jetzt wegen der restriktiven Politik auf ein finanzielles Minimum zurückgeworfen. Das kann man dann eben nicht in einer Gaststätte versaufen.

Wie schaffen Sie Atmosphäre, Herr Mields?

Es fängt damit an, dass die Menschen sich begrüßen, Augenkontakt ist ganz wichtig, dass die Menschen sich angenommen fühlen – wenn sie reinkommen und wenn sie wieder gehen. Man muss das Gefühl haben, dass man ein wichtiger Bestandteil und kein Störfaktor ist.

Mein treuer Freund, der Kellner?

Sich anzubiedern beim Gast, das ist total gefährlich. Emotional intelligente Menschen merken das sofort. Es geht ja nur um ein Kopfnicken oder einen freundlichen Blick. Ich versuche deshalb auch die Begriffe „dienen“ und „bedienen“ im gastronomischen Bereich zu vermeiden, ich „bewirte“.

Was ist der Unterschied?

Wenn du jemanden bewirtest, dann empfängst du ihn, möchtest, dass der sich bei dir wohl fühlt und wiederkommt. Wenn du jemanden bedienst, dann möchtest du sein Geld, mit allen Tricks: Du zeigst das falsche Colgate-Lächeln, startest Happy-Hours oder öffnest schon mal den dritten Blusenknopf …

Blusenknopf öffnen? Das kannten wir von Ihnen noch nicht...

Ich spreche von einer gewissen billigen Art, in die man schnell abrutscht. Anderes Beispiel: diese Litschiliköre beim Inder, die man aus Prinzip am Ende des Besuchs bekommt – das halt ich für verwerflich. Ich weiß, dass das von vielen Gästen eingefordert wird. Aber das ist ganz falsch. Wer bei mir probiert, einen Schnaps aufs Haus zu bestellen, kriegt die Antwort: „Den kann man kriegen, aber nicht bestellen.“

Sollten wir nun weniger ausgehen und viel Geld investieren oder regelmäßig, aber weniger konsumieren?

Man sollte sich sein Lokal gut aussuchen, eines, in dem man sich wohl fühlt. Dann ist das Geld gut angelegt, ob es viel oder wenig ist, ist egal. Support your local heroes! So einfach ist das.

Wie sieht denn die unterstützenswerte Kneipe aus?

Sie sollte offen sein für alle. Das ist wirklich ganz wichtig: jedem die Chance geben, dort zu sein. Das fängt bei den Preisen an. Grundsätzlich sollte man versuchen, so wenige Menschen wie möglich auszugrenzen.

Manche möchte man, ehrlich gesagt, nicht am Nebentisch haben.

Ich rede nicht von denen, die die Atmosphäre leider versauen, die muss man rauswerfen. Aber man sollte nicht missmutig werden, wenn Gäste nur wenig verzehren. Das steht den Menschen zu. Wir verkaufen Geselligkeit, und das ist ein Grundrecht für alle.

Dem Arbeitslosengeldempfänger ermöglichen, dass er ausgehen kann und sich nicht minderwertig fühlen muss?

Ja. Selbst wenn er sich meinetwegen sein eigenes Getränk mitbringt und unauffällig in ein Glas umfüllt.

Es geht um Respekt?

Natürlich. Eine schöne Kneipenatmosphäre basiert ganz einfach auf Respekt.