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Archiv-Artikel

„Juschtschenko wird die Ukraine verändern“, sagt Anatoliy Grytsenko

Am Sonntag steht die Ukraine vor der Wahl. Sie kann für Marktwirtschaft, Rechtsstaat und gegen Korruption votieren

taz: Herr Grytsenko, rechnen Sie am Sonntag mit einer fairen Wahl ohne Fälschungen?

Anatoliy Grytsenko: Wir haben keine Illusionen, dass wieder versucht wird, die Wahlresultate zu fälschen. Aber es gibt positive Trends. Das geänderte Wahlrecht erschwert Missbräuche. Die örtlichen Wahlkommissionen setzen sich anders zusammen. Bis zu 1.000 Personen aus verschiedenen Regionen der Ukraine werden den Wahlkommissionen in Lugansk und Donezk angehören. Zudem haben wir mehr oder weniger freien Zugang zu zwei der drei größten Fernsehstationen.

Viele ukrainische Intellektuelle unterstützen die Kompromisslösung nicht. Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch ist nicht zurückgetreten.

Nun, in unseren Augen ist Janukowitsch entlassen worden. Das war die Entscheidung, ihn zu beurlauben. Und jetzt ist Janukowitsch eben nicht mehr häufiger als Juschtschenko im Fernsehen zu sehen.

Eine andere Kritik lautet, dass sich in Juschtschenkos Lager kleinere Oligarchen wie der Schololadenmogul Petro Poroschenko tummeln. Oder Wendehälse wie Alexander Sintschenko, der bis vor ein paar Monaten noch zu Kutschmas Team gehörte.

Ja, es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Einzelne ihre Regierungsposition zu ihrem Vorteil nutzen werden. Aber ich glaube trotzdem, dass Juschtschenko seinen Absichtserklärungen Taten folgen lassen wird. Er wird die ukrainische Gesellschaft verändern.

Sind Sie sicher? Als Ministerpräsident hat Juschtschenko sich aber nicht gerade als Förderer der Bürgergesellschaft hervorgetan.

Eine Bürgergesellschaft kommt nicht aus einer weißen Schachtel heraus. Sie besteht aus freien Medien, einem normalen Parteiensystem und Gewerkschaften und so weiter. Juschtschenko versteht das und ist diesen Elementen gegenüber offen. Als Ministerpräsident hat er sich auch an grundlegende europäische Werte gehalten. Er hat die Medien, anders als es bei Kutschma der Fall war, nicht unterdrückt. Und er hat eine wettbewerbsbetonte Umgebung gefördert sowie das Staatsbudget transparent gemacht.

Welche Reformen wird Juschtschenko, wenn er siegt, anpacken?

Innenpolitisch wird er Business und Macht voneinander trennen, für eine faire Rechtssprechung sorgen, die Markwirtschaft einführen und die Korruption bekämpfen, die den Staat und die Regierung durchdrungen hat.

Ist denn die Gefahr einer Teilung der Ukraine real?

Nein, das war alles künstlich und ist von den Gouverneuren in Kharkiv, Lugansk und Donezk angezettelt worden. In diesen Regionen gab es die meisten Wahlfälschungen, und die Gouverneure wollten sich mit dem Spiel des Separatismus ihrer Verantwortung entziehen. In Wahrheit gibt es doch in allen Regionen die gleichen Probleme: Arbeitslosigkeit, keine Gehälter, hohe Preise, keine Pensionen. Juschtschenko wird als Präsident regionale Sozialprogramme entwickeln. Er wird keine Schwierigkeit haben, das Land zu vereinen.

Was hat er mit dem Energiesektor vor?

Er wird, bevor ein Schlussstrich unter die Privatisierungsgeschichte gezogen wird, sich einige Deals, über die das Parlament keine Kontrolle hatte und bei denen Unternehmen zum halben Preis verkauft wurden, anschauen. Mit einer großen Umverteilung von Eigentum ist aber nicht zu rechnen. Das hat er mehrere Male gesagt.

Die große Frage bleibt: Wie wird Juschtschenko sich gegenüber Russland positionieren?

Wenn Juschtschenko gewinnt, heißt das nicht, dass Russland verloren hat. Es wird eine normale Zusammenarbeit geben. Juschtschenko ist pragmatisch genug, um zu wissen, dass er nicht nur eine Richtung, die nach Westen, einschlagen darf.

Wird Juschtschenko die ukrainischen Truppen im Irak abziehen?

Ja, wahrscheinlich im kommenden Jahr. Aber es wird sich nicht um einen unilateralen Abzug im falschen Moment handeln.

Stößt er damit nicht die Amerikaner vor den Kopf? Die Ukraine könnte die US-Unterstützung benötigen, wenn sie Mitglied der EU oder der Nato werden will.

Nein, ich denke, die Amerikaner verstehen die Wichtigkeit der Ukraine. Und sie haben so etwas wie eine strategische Vision.

Wie will Juschtschenko den EU-Beitritt der Ukraine erreichen?

Juschtschenko weiß, dass er erst die Kriterien wie höheren Lebensstandard, Transparenz und demokratische Werte erfüllen muss. Wir erwarten also von der EU keine Versprechen oder verbindliche Zeitpläne für einen Beitritt. Aber wir hoffen schrittweise, durch die Schaffung freier Wirtschaftszonen oder durch eine Assoziierung, ein Partner der EU zu werden. Die EU ist schließlich an einer stabilen Zone an ihren Außengrenzen interessiert.

Und den Beitritt zur Nato? Richard Holbrooke meint, die Ukraine solle in fünf Jahren Nato-Mitglied werden.

Dafür muss die Ukraine keine fünf Jahre mehr warten. Militärisch sind wir weiter als manche Nato-Mitglieder. Wir haben durch das „Partnership for Peace“-Programm bewiesen, dass wir ein zuverlässiger Partner sind. Aber wissen Sie: In erster Linie brauchen nicht die Nato und nicht die EU eine stabile Demokratie in der Ukraine – wir Urkrainer brauchen sie. INTERVIEW:MONIKA JUNG-MOUNIB