Fleißig und gottesfürchtig

Die Bessarabien-Deutschen waren lange vergessen. Ute Schmidt erinnert anschaulich und unterhaltsam an deren Geschichte

Je länger ihre Katastrophe zurückliegt, desto größer wird das Interesse an der „Erlebnisgeneration“, die Umsiedlung, Flucht oder Vertreibung erdulden musste. Sie wird zum Gegenstand literarischer wie wissenschaftlicher, vor allem biografisch orientierter Arbeiten. Dieses Interesse verdankt sich einer Sensibilisierung, die von der neuen Welle weltweiter Massenvertreibungen nach 1989 ausging. Politische Motive, etwa das Bestreben, bei der je nationalen „Konkurrenz der Opfer“ mitzumischen oder nach Schadenersatz zu schielen, sind vorhanden, aber nicht ausschlaggebend. Man spürt vielmehr Empathie, oft auch spätes Mitgefühl.

Innerhalb dieser neuen Annäherung hat das Buch von Ute Schmidt „Die Deutschen aus Bessarabien“ einen besonderen Stellenwert. Wir erfahren erst einmal, wo überhaupt Bessarabien liegt – zwischen Pruth und Dnejstr, mithin auf dem Boden des heutigen Moldawiens. Und warum es dort Deutsche gab. Ute Schmidt schildert die Geschichte dieser Minderheit: von ihrer Ansiedlung als Kolonisten im zaristischen Russland über ihre Umsiedlung in der Folge des Hitler-Stalin-Paktes in den von Nazi-Deutschland annektierten „Warthegau“ bis hin zur Flucht und der Mühsal des Neuanfangs im Nachkriegsdeutschland. Schmidt zitiert zudem Interviews, die in einer Art historischem Längsschnitt drei Generationen umfassen: die Erlebnisgeneration, die Zwischengeneration der Kriegskinder oder Neubürgerkinder und schließlich die Generation der Konsumkinder. Mit diesem Verfahren gelingt ihr eine überzeugende Verflechtung. Die Ereignisgeschichte wird reich erschlossen, zum Teil mittels neuer Dokumente. Die Interviews werden auf diesem Fundament systematisiert und ausgewertet.

Die Bessarabien-Deutschen, von ihrem Ursprung her mehrheitlich Schwaben, waren ein fleißiges und gottesfürchtiges Völkchen, dem die Geschichte übel mitgespielt hat. Letztlich jedoch wurden sie im Land ihrer Vorväter wieder heimisch. Was bedeutet heute „Heimat“ für sie? Für die ganz Alten, so Ute Schmidt, der immer noch lebendige Ort ihrer Jugend im bessarabischen Dorf. Die zweite Generation hängt zwischen der alten und neuen Heimat, für die Jungen ist Heimat einfach da, wo sie sich wohl fühlen. Aber auch bei ihnen wirkt das „kulturelle Kapital “ fort, das die Bessarabien-Deutschen für sich in Anspruch nehmen.

Gibt es gar nichts zu kritisieren an diesem schönen Buch? Vielleicht, dass der völkische Bazillus, von dem gerade auch die jüngeren Bessarabien-Deutschen zur Nazizeit angesteckt waren, etwas nachsichtig abgehandelt wird. Sie waren eben hauptsächlich Opfer – und das gleich zweimal hintereinander.

Ute Schmidt nutzt das soziologische Handwerkszeug, verfällt aber nirgendwo dem soziologischen Jargon der Unlesbarkeit, im Gegenteil. Sie kann Geschichten erzählen und macht von dieser Fähigkeit auch Gebrauch. Das Buch ist zwar dick, aber unterhaltsam – und anschaulich. Dafür sorgt auch die reiche Bebilderung, sicher eine Frucht langjähriger, geduldiger Recherche.

CHRISTIAN SEMLER

Ute Schmidt: „Die Deutschen aus Bessarabien. Eine Minderheit aus Südosteuropa“. Böhlau Verlag, Köln 2004, 572 Seiten, 34,90 Euro