piwik no script img

Archiv-Artikel

Das historische Gedächtnis

Seit zehn Jahren erinnert der Journalist Bernhard Röhl in der taz hamburg an Menschen, Ereignisse und Zeitläufte – einen Schwerpunkt bilden Nationalsozialismus und antifaschistischer Widerstand. Das Credo des 75-Jährigen: „Es kommt immer noch darauf an, die Welt zu verändern“

Von Markus Jox

Das war der verbale Ritterschlag: „Bernhard Röhl ist das historische Gedächtnis der taz hamburg“, stellte der Redaktionsleiter unlängst fest. Und wirklich: Seit zehn Jahren erinnert der heute 75-Jährige, meist anlässlich von runden Jahrestagen, an historische Hamburgensien – sein Schwerpunkt liegt dabei auf Nationalsozialismus und antifaschistischem Widerstand (siehe Text unten). 39 historische Beiträge weist das taz-Archiv aus, der erste erschien am 18. Mai 1994. Unter dem Titel „Der Schlachter als Henker“ erzählte Röhl damals die Geschichte von vier Hamburger Antifaschisten, die 1934 in der U-Haft hingerichtet worden waren.

Als Bernhard Röhl erfuhr, dass die taz gerne ein Porträt über ihn selbst veröffentlichen wollte, reagierte der Mann auf seine Art. Er setzte sich an die heimische alte Schreibmaschine, auf der er auch seine Artikel, die er eigenhändig in unsere Altonaer Redaktionsstube zu tragen pflegt, immer tippt, und verfasste in Stichworten „Erinnerungen“ an sein Leben – 17 eng beschriebene Seiten lang.

Von Brüning bis Rosa-Grün

Selbstverständlich bleibt sich Röhl auch in diesen autobiographischen Aufzeichnungen treu: Es geht ihm weniger um seine eigene Person, um die er möglichst wenig Aufhebens machen will, sondern um die Umstände und Zeitläufte, in denen er sich bewegt hat, und um Menschen, denen er in seinem Leben begegnet ist. „Das Jahr 1929 – in dem ich am 2. August geboren wurde – war mit dramatischen Ereignissen angefüllt“, beginnt Bernhard Röhl seine Erinnerungen und verweist auf die hohe Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik sowie den „Schwarzen Freitag“ an der Börse.

Enden lässt Röhl seinen Text in der deutschen Gegenwart: „75 Jahre nach der Weltwirtschaftskrise und den folgenden Notverordnungen Brünings“, schreibt er, „sind in Deutschland in Wahrheit 8,643 Millionen Arbeitslose vorhanden ... Hartz IV und skandalöse 1-Euro-Jobs sind Verschleierungspseudonyme von Schröder und Clement für ihre Notverordnungen.“ Die „rosa-grüne“ Wirtschaftspolitik werde in den kommenden Jahren „mehr Berufsarbeitslose, Bettler, Prostituierte, Drogensüchtige und Kriminelle“ produzieren, prophezeit Röhl. Und endet mit einem Satz, den er als „Resümee“ seines Lebens und Wirkens bezeichnet: „Es kommt immer noch darauf an, die Welt zu verändern.“

Bernhard Röhl ist Journalist der alten Schule: kein pseudowitziger Exhibitionist also, sondern kritischer, leidenschaftlicher Beobachter. Das „Geheimnis des Lesens“ faszinierte schon den sehr jungen Bernhard, der „in einem alten Kalender kleine Erlebnisse nach Fahrten mit U- und S-Bahn“ aufschrieb. Recht eigentlich sei er ein „Einzelgänger“, sagt Röhl. Einer, der immer gerne unabhängig sein und seinen Willen durchsetzen wollte.

Aufgewachsen ist er bei seinen Großeltern in St. Georg – die Mutter starb, als er drei Jahre alt war, den Vater hat er kaum zu Gesicht bekommen. Zu den ersten Erinnerungen an seine Kindheit gehören Arbeitslose, die auf den Bänken vor dem Krankenhaus St. Georg saßen, Karten spielten und Bier tranken sowie ein betrunkener Uniformträger der Marine-SA, der 1933 in der Lindenstraße seine Tante belästigte. In den Spielzeugläden, erinnert Röhl sich gut, seien damals Puppen in SA-Uniform feilgeboten worden – ebenso wie „Hitler als kleine Plastikfigur, die den rechten Arm heben konnte“.

Als der Blockwart klingelte

Röhl hat noch die „Blockwarte“ der NSDAP vor Augen, die die Hausbewohner überwachen und Spenden eintreiben sollten. Bei seinen Großeltern sei regelmäßig „ein älterer primitiver Mann mit Parteibonbon an der Jacke“ erschienen, der die 50 Reichspfennig als Spende für den „Eintopfsonntag“ abgeholt habe – nach dem Willen des „Führers“ sollte jede Familie einmal im Monat ein zusammengekochtes Gericht auf dem Tisch stehen haben. Der Blockwart sei es auch gewesen, der den Großvater – Korbmacher, Sozialdemokrat und Gewerkschaftler – unter Druck gesetzt habe, die NS-Postille Hamburger Tageblatt zu abonnieren und an Feiertagen eine Hakenkreuzflagge aus dem Schlafzimmerfenster zu hängen. Es fröstelt einen, wenn man Röhls Notizen über den 9. November 1938 liest: „Meine Großmutter wollte mit mir etwas besorgen. Wir gingen über den Steindamm, erschreckt über zerstörte Geschäfte, leere Schaufensterhöhlen und zerborstene Scheiben. Unter den Schuhen knirschten die Glassplitter. So zeigte sich die Reichspogromnacht in St. Georg.“

Unter seinen Volksschullehrern erinnert sich Röhl noch detailliert an einen Ex-Offizier aus dem 1. Weltkrieg, „ein ausgemachter Sadist“, der oft in brauner Uniform erschien und für seine Prügelstrafen berüchtigt gewesen sei. Besonders übel sei es einem Jungen namens Burbar ergangen: „Dieser Junge, wahrscheinlich Sinti oder Roma, wurde heftig verprügelt, auch weil er sich wehrte – eines Tages war er verschwunden.“

Der Feuersturm auf Hamburg Ende Juli 1943 war eine krasse Zäsur in Röhls Leben. Die großelterliche Wohnung in der Alexanderstraße war nach den Fliegerangriffen zerstört, es blieb nur die Flucht aus der Stadt: „Die Ausgebombten sammelten sich am Ende der Schmilinskystraße“, erinnert er sich. Zuerst ging es mit dem Zug nach Neumünster, von dort aus nach Malchow in Mecklenburg, wo ein Onkel lebte, dann weiter nach Waren an der Müritz. Viele der Menschen dort schimpften, so Röhl, auf die unerwünschten „Butenhamburger“ und das „Bombenpack“.

Am 2. März 1945 erhielt der 15-Jährige den Befehl, in ein „Wehrertüchtigungslager“ nach Parchim einzurücken. Dort war ein früherer Hamburger Pastor Lagerführer: „Die wahnsinnigste Idee, die je einem menschlichen Gehirn entsprungen ist, ist die Idee von Karl Marx von den Ausbeutern und Ausgebeuteten“, habe dieser gebrüllt. Andere Ausbilder hätten krakeelt: „Wir jagen Euch, bis Euch das Wasser im Arsch kocht!“

Reisen in über 70 Länder

Röhl hatte Glück. Nach einigen Irrungen und Wirrungen kam er im Frühsommer 1946 zurück in seine Heimatstadt Hamburg, wo noch immer an einer Wand im Hauptbahnhof weiß gepinselt die Parole prangte: „Ein Hundsfott, wer jetzt den Führer verlässt.“ Jetzt verschlang er die Bücher von Kurt Tucholsky, Heinrich Heine, Egon Erwin Kisch und Bert Brecht. Zu dieser Zeit prägte den Jugendlichen ein Lehrer, der als „links“ galt und sich von den Schülern „Rudi“ nennen ließ. „Rudi ließ darüber abstimmen, ob zu Weihnachten 1946 eine Geschichte über die Verfolgung von Juden vorgelesen werden sollte, es gab dafür eine Mehrheit“, schreibt Röhl in seinen Erinnerungen.

Rudi, der Mitglied der KPD war und nebenbei für die von der Partei getragene Hamburger Volkszeitung (HVZ) schrieb, ebnete ihm den Weg in den Journalismus. In einem Aufsatz zum Thema „Mein Lebensziel“ hatte Röhl geschrieben, er wolle Journalist werden und über ferne Länder berichten. Rudi schlug ihm vor, beim HVZ-Kritiker Friedrich August Fischer vorstellig zu werden. Dessen Antwort: „Journalist können Sie nicht werden, Journalist müssen Sie sein.“ 1949 veröffentlichte die HVZ die ersten Artikel Röhls, 1952 wurde er Volontär und dann Lokalredakteur bei dem Blatt, das im Zuge des KPD-Verbots 1956 dichtmachen musste.

Danach arbeitete Bernhard Röhl freiberuflich für diverse Publikationen, darunter Gewerkschaftszeitungen, Wochenzeitungen und das Hamburger Magazin Spontan. Von 1969 bis 1977 war er Chefredakteur des Monatsperiodikums Bauwirtschaftliche Informationen, einer Zeitschrift für Architektur und Bauwirtschaft. In den Jahren danach schrieb Röhl Reisebücher über Hamburg, Südostasien, Kanada und die Vereinigten Arabischen Emirate sowie Reisereportagen für den NDR.

Mit seiner Frau Rita, die er 1957 heiratete, hat Bernhard Röhl bereits über 70 Länder besucht. Zwar gefalle ihm Hamburg sehr gut, aber eigentlich sei er „Weltbürger“, sagt er. „Ich könnte mir sehr gut vorstellen, in Sydney zu leben.“ Vor kurzem erst war das Ehepaar in Vietnam, Laos und Kambodscha. Röhl wäre nicht Röhl, wenn er sein Fernweh nicht in einen Aphorismus kleidete. Also zitiert er Jean Paul: „Nur Reisen ist Leben, wie das Leben Reisen ist.“