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Archiv-Artikel

Kicken statt Kickboxen

Nationalitätenclubs bieten für ausländische Fußballer eine Alternative zum deutschen Vereinswesen. Doch das Klischee von den „Nationalteams“ in den Amateurligen trifft inzwischen immer seltener zu

AUS HAMBURGMATTHIAS GREULICH

Murat Siphai blickt streng in die Runde, während er auf die an der Seitenlinie postierten Spieler einredet. Doch die Standpauke der einen Hälfte des Trainergespanns von Inter Wilhelmsburg scheint nicht gewirkt zu haben, einige der Gescholtenen wagen es anschließend sogar zu lächeln, während sie eine Runde um den holprigen Grandplatz in Kirchdorf-Süd laufen. Neben den Umkleidekabinen verzieht Ismail Kurt keine Miene, während er das Aufwärmprogramm verfolgt und die Bälle für das Training aus einem Netz herausfischt. Dort, auf der fest verschweißten Sitz- und Tischkombination der Regionalsportanlage Karl-Arnold-Ring, haben sie die Aufstellung für das Spiel am Wochenende ausgeheckt. Namen wie Ali, Baris, Erhan, Timur und Engin stehen auf dem Zettel und deuten auf einen der zahlreichen „ethnisch homogenen“ Sportclubs hin, wie die Nationalitätenclubs im Soziologendeutsch genannt werden.

Seit den Siebzigerjahren gibt es solche Vereine, die anfangs von Fußballern verschiedener Nationalitäten gebildet wurden. Damals spielten im Club Castello die Italiener, es gründete sich der Harburger Türksport und beim SVS Mesopotamien sammelten sich die Fußballer, die Aramäisch, die Sprache Jesu, sprechen. Die Zuschauer auf den Amateurplätzen können sich bei einer Begegnung zweier Nationalitätenclubs auch heute noch wie bei einem Länderspiel fühlen. Wenn der FC Portugal in der Bezirksliga auf Kurdistan trifft, tragen die Portugiesen die offiziellen Nationalmannschaftstrikots. Beim Gegner sind die Hemden auf dem Rücken mit „Özgür Welat“ beflockt, was in der Kurdensprache „Freies Land“ bedeutet. Auf der Tribüne gibt derweil ein Zuschauer im Sonntagsstaat unentwegt Anweisungen auf Portugiesisch, die keiner der Seinen zu befolgen scheint. Das babylonische Sprachengewirr wird nur dann durch die Amtssprache abgelöst, wenn der Spielleiter eine umstrittene Entscheidung getroffen hat: „Herr Schiedsrichter, da war doch nichts!“

Tun sich also auch auf dem Sportplatz Parallelgesellschaften auf, wie sie in den Feuilletons der Republik beschworen werden? Die Fußballer geben einfache Antworten. „Das ist eine Sache des Wohlfühlens, warum man in einem Nationalitätenclub spielt“, meint Hursit Köse, der als Schiedsrichter für Türkgücü Wilhelmsburg pfeift. „Ich bin wegen der Freundschaft zu den Kollegen dabei“, erzählt Timur Öztas. Der 22-Jährige strebte in der Jugend des HSV einst vergeblich nach einer Profikarriere, nun genießt er den Spaß am Fußball bei Inter Wilhelmsburg.

Doch „ethnisch homogen“ ist sein Verein längst nicht mehr. In den zwei Herrenmannschaften von Inter gibt es Türken, Kurden, Afghaner und Deutsche, womit der 1991 aus einer Initiative des Hauses der Jugend in Kirchdorf hervorgegangene Club voll im Trend liegt. „Bei den älteren Nationalitätenclubs spielen inzwischen meist Fußballer aus vielen Ländern zusammen. Die Erfahrung zeigt, das es sich immer mehr mischt, je länger die Clubs existieren“, hat Karsten Marschner, Geschäftsführer des Hamburger Fußballverbandes, beobachtet und meint damit insbesondere Vereine wie Örnek/Türkspor aus Altona und den Harburger Türksport.

Wenig inhomogen ist der Wohnort der Spieler von Inter Wilhelmsburg. Die meisten kommen aus Kirchdorf-Süd, einer Hochhaussiedlung, die vor über 30 Jahren auf der grünen Wiese entstand. Insbesondere die Angebote für Jugendliche sind begrenzt, viele hängen den ganzen Tag im Haus der Jugend herum, wo die aufkommende Aggressivität beim Kickboxtraining im hauseigenen Boxring bekämpft werden kann. An den Sonntagen schauen 30 Unentwegte bei den Heimspielen der beiden Mannschaften von Inter zu. Wenn die Kabinentür einen Spalt aufgeht, können sie ihren Spielern bei der Spielvorbereitung zuhören, wie sie sich in der Kabine mit rhythmischen Klatschen auf den Gegner einstimmen und Mut machen.

Damit die Energie der teilweise gerade der A-Jugend entwachsenen Fußballer in produktive Bahnen gelenkt werden kann, gibt es stabile Charaktere wie Engin Güngör, dessen Bruder Ergün einst der erfolgreichste Inter-Torjäger war, bis ihn der Beruf zum Rücktritt zwang. Mit seiner südamerikanischen Frau betreibt er eine Zahnarztpraxis in Wilhelmsburg. Bruder Engin – ebenfalls Angreifer – erlebt gerade seine „schönste Zeit im Fußball, mit den Jungen klappt es sehr gut“, schwärmt der 27-jährige Krankenpfleger. Damit meint er Mitspieler wie Timur Öztas. Der Student der Technischen Betriebswirtschaftslehre gibt dem Spiel im Mittelfeld Struktur. Und wenn er mit Sonnyboy-Lächeln seinen „Kollegen“ einige Tipps gibt, hören die Schüchterneren wie der 18-jährige Erhan Akkus besonders genau hin. Geredet wird nicht nur über Fußball. Erhan ist auf der Suche nach einer Lehrstelle als Einzelhandelskaufmann, in der Schule macht er Bewerbungstraining und hat gelernt, „wie schwer es ist, momentan etwas zu kriegen“. Immerhin haben einige Mitspieler durch Vermittlung der Inter-Offiziellen einen Ausbildungsplatz gefunden.

Das Trainergespann der beiden Pragmatiker Ismail Kurt und Murat Siphai treibt aber auch eine erzieherische Mission an: „Wir versuchen, den Jungs beizubringen, Verantwortung für sich selber zu übernehmen“, so Kurt, der trotz Schichtdienstes viel knappe Freizeit auf dem Sportplatz verbringt. Seine Philosophie hat Inter nun auch in die Organisationsstrukturen übernommen. Neben Ismail Kurts Funktionen als Trainer, Torwart der ersten Mannschaft und zweiter Vorsitzender ist er nun auch noch für das Finanzielle zuständig. Aufmerksam überwacht er die Überweisung der Verbandsbeiträge, denn vor zwei Jahren wurde Inter wegen verspäteter Zahlungen der Abgaben vom Hamburger Fußballverband in die unterste Liga zurückgestuft. Niemand hatte damals auf Mahnungen reagiert. „Wenn ich etwas in Deutschland gelernt habe, dann doch, auf solche Briefe zu antworten und nicht den Kopf in den Sand zu stecken“, so Kurt. Probleme, die nicht untypisch für Nationalitätenclubs sind und deren Existenz gefährden können. Nach dem Zwangsabstieg verließen viele Spieler den Club, der neu gewählte Inter-Vorstand musste mit den mühsam zusammengesuchten Talenten aus dem Viertel den Neuaufbau bewerkstelligen.

Sanktionen des Verbandes drohen den Nationalitätenclubs aber nicht nur wegen organisatorischer Mängel, sondern auch dadurch, dass einige Teams regelmäßig gegen Gegner und Schiedsrichter über die Stränge schlagen. „Viel Aggressivität wird bei diesen Vereinen durch das Publikum, Trainer und Betreuer von außen auf den Platz getragen“, sagt Frank Schein, der beim Hamburger Fußballverband Trainer im Bereich Gewaltprävention ausbildet. Fouls und Tätlichkeiten sind die Folge bis hin zu Spielabbrüchen, weil sich Schiedsrichter bedroht fühlen. Die Fälle landen dann vor der Verbandsgerichtsbarkeit, im Bereich der begangenen Tätlichkeiten mit Verletzungen sind nichtdeutsche Fußballer überdurchschnittlich häufig die Täter. Entsprechend schlecht ist das Image der Clubs, deren Spieler immer wieder vor dem Sportgericht auftauchen. Hinzu kommt, dass die Unbeherrschtheiten die Fußballer an der Entfaltung ihrer Fähigkeiten hindern. „Die Tretermannschaften haben über längere Sicht noch nie gewinnen können“, weiß Frank Schein.

Diese schlichte Wahrheit kennt man auch bei Inter Wilhelmsburg. Die Trainer gehen konsequent gegen Disziplinlosigkeiten vor. Offensichtlich mit Erfolg: Das Sündenregister des Sportgerichts zeigte in der letzten Saison bei Inter Wilhelmsburg nicht einen einzigen Eintrag. Gerade weil seine Spieler aus einem Stadtteil mit Problemen kommen, der „mit Vorurteilen leben muss, wollen wir beweisen, dass wir in Ordnung sind“, formuliert es Timur Öztas. Ismail Kurt weiß das und will bei Inter Wilhelmsburg weiter als Trainer wirken. „Wir haben noch viel vor mit den Jungs.“