: Kein Dämon, kein Heiliger
Rudi Dutschkes Verhältnis zur Gewalt ist in den Fokus der Kritik gerückt. Manche sehen ihn sogar in der Nähe der RAF. Zu Unrecht
VON STEFAN REINECKE
„Rudi Dutschke ist, auch über die Linke hinaus, zu einer fast unangreifbaren Person geworden.“ Dieser Befund von 1992 stammt von jemandem, der es wissen muss: dem Historiker Wolfgang Kraushaar, der seit Jahrzehnten die Geschichte der Protestbewegungen erforscht. Doch seither hat sich etwas verändert. Dutschkes Verhältnis zur Gewalt ist in den Fokus der Kritik gerückt. Manche sehen ihn sogar in der Nähe der RAF. Mag sein, dass dies ein Nebeneffekt der Debatte um Joschka Fischers militante Vergangenheit 2001 ist. Man kann diese Debatte auch für noch eine effektheischende Abrechnung mit „68“ halten. Dennoch kommt die libertäre Postlinke, die Dutschke für sich reklamiert, nicht um die Frage herum: Wie hielt Rudi es mit der Gewalt? Die Gewaltfrage mag seit der Auflösung der RAF nicht mehr akut sein – trotzdem ist sie nicht nur von akademischem Interesse. Sie berührt das historische Selbstverständnis der Libertären im Kern.
1 NAHAUFNAHME
Im Winter 1968 besucht der linksradikale Mailänder Verleger Feltrinelli Rudi Dutschke. Im Auto, das vor der Wohnung parkt, präsentiert er stolz eine Rückbank voll mit Dynamitstangen. Rudi Dutschke packt das Dynamit in den Kinderwagen, legt das Baby Hosea Che darauf und schiebt den Wagen in eine konspirative Wohnung, wo darüber beratschlagt wird, was mit dem Dynamit geschehen soll. Feltrinelli schlägt Sabotageakte gegen US-Schiffe vor, die Nachschub nach Vietnam bringen, andere bevorzugen Bahngleise. Am Ende der Debatte beschließt man gar nichts zu tun, der Sprengstoff verschwindet wieder. Verbleib unklar.
Diese Episode, die Dutschkes Ehefrau Gretchen in ihrer Biografie über Rudi erzählt, enthält eine Reihe von Bestandteilen, die das Verhältnis der Bewegung zur Gewalt kennzeichneten. Es ist ein Spiel. Grinsend zeigt Feltrinelli den deutschen Genossen das Dynamit – auf auf offener Straße. Nichts vom Pathos der Illegalität. Es geht zu wie bei Jungs, die sich den neuen Gameboy vorführen. In dieser Episode ist etwas seltsam Unschuldiges, unfassbar Naives. Feltrinelli starb drei Jahre später bei dem Versuch, einen Strommast in die Luft zu jagen. Und die Szene mag die Assoziation nahe legen, dass neun Jahre später ein RAF-Kommando einen Kinderwagen benutzte, um Schleyer zu entführen und dessen Fahrer zu töten. „Hosea“, schreibt Gretchen Dutschke in ihrer Biografie, so als müsse sie sich selbst angesichts dieser babygefährdenden Tat noch immer gut zureden, „schlief die ganze Zeit.“ Was zeigt diese Geschichte?
2 HALBTOTALE
Ein eingeschliffenes Muster der linken 68-Erzählung lautet so: Die Gewalt der Studenten 1968 war Gegengewalt. Sie war die Antwort auf eine postfaschistische Gesellschaft, die alles Dissidente ausschließen, bekämpfen und sogar töten musste. Die Symbole dafür waren der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 und das Attentat auf Rudi Dutschke am Gründonnerstag 1968.
So war es – auch. Aber die Dinge sind komplexer. Denn die Gewaltfaszination war auch eine originale Produktion der Bewegung – und nicht bloß ein Notwehrreflex und das Echo auf eine autoritäre Gesellschaft. Die Indizienkette für diesen Befund ist lang, auch bei Dutschke.
Im April 1965, also vor der Erfahrung, von Polizisten grundlos niedergeknüppelt zu werden, schreibt Dutschke: „Die Konfrontation mit der Staatsgewalt ist zu suchen und unbedingt erforderlich.“ Im Herbst 1967 fordert er beim SDS-Delegiertenkongress „Guerillamentalität“ ein. Leitbild sind die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Die Propaganda der Schüsse, die Che Guevara dort praktiziere, müsse „durch eine Propaganda der Tat in den Metropolen vervollständigt werden“. Wenn man sich heute über diesen Text beugt, befremdet die Mischung aus Weltrettungsfantasien und militantem Sound. Mit einem Federstrich wird eine ganz neue Welt entworfen – ohne Unterlass wird bekämpft und zerschlagen. Es ist eine Rhetorik der Gewalt, aber nicht mehr als das – Rhetorik. Die Propaganda der Tat, die gefordert wird, ist eine symbolische, die Waffen, nach denen verlangt wird, sind letztlich die der Kritik.
Allerdings radikalisieren sich auch Dutschkes Ideen. 1968 bemängelt er, dass der Bewegung Willen fehle, „militante Aktionen gegen Springer oder die Kriegsmaschinerie“ durchzuführen. Gewalt gegen Sachen gehört längst zum Konzept – dass sie erfahrungsgemäß von der gegen Personen kaum zu trennen ist, geht in dem aktionistischem Trubel manchmal unter.
Es gibt noch mehr Dutschke-Texte und Aktionen, in denen Gewalt als Möglichkeit auftaucht. Vieles in diesen Texten erscheint heute fremd, fern, absonderlich. Der heiße Hass auf den Staat, der damals zur selbstverständlichen Gefühls-Grundausstattung eines ordentlichen Rebellen gehörte, mutet heute angesichts des neoliberalen Rückzugs des Staates obskur an. Verstörend ist vor allem die Idee, Gewalt mit Befreiung zu koppeln. Dass die Gewalt für die Kolonisierten mehr als ein notwendiges, aufgezwungenes Übel sein soll, dass die Gewalt, wie bei Frantz Fanon, ein Moment der Selbstbefreiung, der Katharsis ist – das erscheint obszön. Diese Gewalt hat zu Fidel Castros Diktatur geführt, zu Robert Mugabes Autokratie und sie war das ideologische Gift, mit dem viele Drittweltstaaten in endlose Bürgerkriege und eine alles betäubende Gewaltschleife getrieben wurden. Auch Dutschke war von der Notwendigkeit von Gewalt in der Dritten Welt überzeugt, auch fasziniert. Allerdings finden sich stets Einschränkungen und Rückbindungen.
In Ches damals kanonischem Text „Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam“ findet Dutschke Guevaras Lob des Hasses „bedrückend“. „Die Gefahr des Umschlags von militantem Humanismus in verselbstständigten Terror wohnt jeder Form des Hasses inne.“ Das ist umständlich ausgedrückt – aber eindeutig: Der Kult der Gewalt ist eine Gefahr für jede politische Bewegung, nicht deren Rettung. Noch wo Dutschke der Gewaltaffirmation nahe kommt, hat sein Denken nichts von Carl Schmitt, nichts von der Veredlung der Gewalt zum Prinzip des Politischen schlechthin. Auch der Partisan ist bei Dutschke zuallererst eine diskursive Figur.
Das Copyright auf die Idee, in die Logik der Gewalt einzusteigen, hatte die Neue Linke. Unbestreitbar ist auch, dass die Antwort auf den 2. Juni und das Dutschke-Attentat kollektive Gewaltfantasien der Bewegung waren, die die RAF später ausagierte. Dies war der psychische Unterstrom, die das hartnäckige Dilemma des Sympathisanten begründete. Er konnte sich nicht von der RAF distanzieren, weil er damit eine Idee, die seine eigene war, hätte dementieren müssen.
Das ist das eine – etwas anderes ist es, Dutschke zu einer Art geistigem Gründer des Linksterrorismus zu machen. So meint der CDU-nahe Historiker Gerd Langguth einen „kausalen Zusammenhang“ zwischen Dutschke und dem Terror in den 70ern gefunden zu haben. Kausaler Zusammenhang legt nahe: wenn-dann, ohne Dutschke kein Linksterror. Dahinter lugt das Zerrbild vom dämonischen Verführer der Massen hervor, das Bild in den 60ern zeichnete.
Das Argument für diese volltönende These ist hier so schmal wie der Grat zwischen Kritik und Diffamierung, der hier betreten wird. Dutschke habe, so Langguth, Gewalt enttabuisiert – und damit möglich gemacht. Das mag sein – wer kann schon sagen, ob die Differenzierung beim Publikum stets ankam? Aber wenn man das großflächige Kriterium Enttabuisierung von Gewalt anlegt, dann zählen auch Bild mit seinen wüsten Gewaltfantasien und die Westberliner Polizei mit ihrer Bürgerkriegsmentalität zu den Gründungsvätern der RAF.
Immerhin hat auch Fritz Teufel 1980 in der taz zu bedenken gegeben, dass Rudi ohne das Attentat an der Seite von Ulrike Meinhof in den Untergrund abgetaucht wäre. Historie im Konjunktiv ist stets glattes Parkett – aber diese Fantasie verriet wohl Teufels Wunsch, mit der Autorität der Figur Dutschke seinen eigenen Irrweg in die Militanz mit etwas Ratio zu schmücken.
Dutschke hatte, wie alle Zeitgenossen bestätigen, kein Talent zum Hassen. Schon das lässt ihn als geheimen Spiritus Rector der RAF untauglich erscheinen. Er konnte noch nicht mal seinen Attentäter anständig hassen – im Gegenteil: Er ließ ihm eine geradezu aufdringliche christliche Feindesliebe zuteil werden. Wie soll, wer seinem Attentäter schreibt: „Ich bin Ihnen wirklich nicht böse“, zum Terroristen taugen, der bereit sein muss, Menschen zu töten, die nur zufällig am falschen Ort sind?
3 TOTALE
Irritierend am Thema Dutschke und die Gewalt sind weniger die Fakten. Irritierend ist die Reaktion der linken Gemeinde. Obwohl die wesentlichen Gewalt-Texte in den einschlägigen Biografien (von Ulrich Chaussy, Jürgen Miermeister, Gretchen Dutschke-Klotz und zuletzt Michaela Karl) teils schon seit 20 Jahren nachzulesen sind, hat das Publikum das Gewaltthema hartnäckig ignoriert. Warum?
Dutschke war ein Opfer. Keiner bot sich so sehr für die vakante Rolle des linken Märtyrers an wie er. Der Bedarf an eigenen Vorbildern war auch bei den Antiautoritären groß – das Loch, das die schwachen, mit der Nazizeit identifizierten Väter für die zweite Generation hinterlassen haben, tief. „68“ war vielleicht vor allem ein Versuch, dieses Loch aufzufüllen. Das würde auch den linken Kitsch erklären, die Neigung, sich möglichst wirklichkeitsferne, reine Vorbilder zu schaffen.
In diesem linken Kitschpantheon erschien Che Guevara seinerzeit als Jesus mit der Knarre, Dutschke als das Gleiche – nur ohne Knarre. Dass er Gründonnerstag angeschossen wurde und Weihnachten starb, waren für viele einfach nur Zeichen. Sogar ein nüchterner Zeitgenosse wie der linke Theologe Helmut Gollwitzer hat Dutschke in seiner Beerdigungspredigt einen Nachfolger Jesu genannt.
„Vergiss nicht, Beuys / Den mehrfach Deutschgekreuzigten / Den Rudi den Dutschke / Er steht da in der Ecke / Friert hungert lächelt vergessen.“
Diesen Text schrieb Heinrich Böll an Joseph Beuys zu dessen 60. Geburtstag. Ein Text von dem Schriftsteller der Bundesrepublik an den Künstler der Bundesrepublik über den Bewegungspolitiker der Republik. Es ist ein Text, der Aufschluss gibt – über den blanken christlichen Kitsch und das fast sakrale, weihwasserfeuchte Dutschke-Bild der alten Bundesrepublik. Böll schreibt über Dutschke wie über eine Ikone. Dutschke ist hier der Märtyrer, der die Last, ein Deutscher zu sein, auf sich genommen hat und dafür am Kreuz leidet. Stellvertretend, wie sein Vorbild. Er ist ein Opfer, hungernd, lächelnd. Seine Größe besteht darin, seinen Feinden die andere Wange hinzuhalten.
In dieses Heiligenbildchen passt in der Tat nicht, dass der Messias, anstatt mit ordnungsgemäßer Friedfertigkeit sein Schicksal zu ertragen, Dynamit im Kinderwagen durch die Gegend schiebt, nachdenkt, ob man Strommasten in die Luft jagen sollte, oder in Texten mit einer Militanz kokettiert, die immer aus dem Ruder laufen kann. Das Opfer, das damit liebäugelt, zurückzuschlagen, hört auf, ein Märtyrer zu sein. Das stilisierte Bild zerbricht, die Gemeinde ist zerknirscht.
„Skandalös“ an dem Thema Dutschke und Gewalt sind weniger die Tatsachen. Der „Skandal“ entsteht, weil dieses Thema die Fallhöhe zwischen der Wirklichkeit und dem Jesus-Löckchen-versehenen Dutschke-Bild zum Vorschein bringt. Wenn die Zerstörung dieser Heiligenlegende ein Ergebnis der rabiaten Thesen à la Langguth ist – dann wäre das ein hübsches Beispiel, wie das Falsche das Richtige hervortreibt, eine Art Dialektik der Gegenaufklärung.