piwik no script img

Archiv-Artikel

Die Last der leeren Stunden

Zeit totschlagen ist das Erste, was Gefangene in Tegel lernen müssen. Arbeitsplätze und Freizeitangebote sind in Deutschlands größtem Knast begehrt. Zwei Häftlinge, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, erzählen von ihrem Kampf gegen die Trägheit. Und von denen, die es nicht geschafft haben

von ANTONIA GÖTSCH

An den roten Holztüren der Zellen kleben Pappschildchen: „Hausarbeiter“, „Bäckerei“, „ohne Arbeit“. Bei den Häftlingen ohne Arbeit geht die Tür gleich nach dem Frühstück wieder zu. Arbeiten oder nicht arbeiten, das ist im Gefängnis eine „Frage des Überlebens“, sagt Klaus. Er sitzt seit sechs Jahren in der Justizvollzugsanstalt Tegel.

„Meine schlimmste Zeit im Gefängnis waren die ersten 13 Monate ohne Arbeit, ohne Freizeitgruppe“, sagt Klaus. Als Maschinenbauer war er Zwölfstundentage gewohnt. Die plötzliche Untätigkeit habe ihn betäubt. „Ich musste mich zu jeder Handlung zwingen: aufstehen, rasieren, waschen. Es war ja auch kein Ende in Sicht.“ Klaus ist wegen versuchten Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Er ist 53 Jahre alt. Die weißen Haare und tiefen Falten lassen ihn älter aussehen.

„Ohne Job verbringst du fast den ganzen Tag auf der Zelle“, erzählt Klaus weiter. „Wenn die Arbeiter morgens losgehen, werden die Häftlinge ohne Arbeit eingeschlossen.“ Erst ab 18 Uhr können sie sich für ein paar Stunden frei im Trakt bewegen.

Die Gefangenen dürfen Fernseher, Radio und Bücher mitbringen. „Aber damit kriegt man die Zeit nicht tot“, sagt Klaus. Auf die Stunde Hofgang hat er an manchen Tagen sehnsüchtig gewartet, an anderen fand er nicht mehr die Kraft zum Aufstehen. Da hatte die Trägheit ihn besiegt. Der Grat zwischen Nichtstun und Selbstaufgabe ist schmal: „Im Gefängnis kann man schnell verwahrlosen“, sagt Gefängnispfarrer Rainer Dabrowski. In einigen Trakten geht nicht einmal die Hälfte der Häftlinge zum Hofgang raus. Es gibt Gefangene, die wochenlang vergessen, sich zu waschen, oder sich ihr Essen in Boxershorts abholen. „Das interessiert hier auch keinen“, sagt Dabrowski: „Morgens, mittags und abends wird kontrolliert, ob die Häftlinge noch leben, und durchgezählt. Das ist alles.“

Andreas hat sich von Anfang an Tagespläne gemacht. Er ist 48 und ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilt. Er legt Wert auf eine „ordentliche Erscheinung“, trägt dunkle Hosen, Poloshirt und ist frisch rasiert. Sein Händedruck ist fest. Vor seiner Verurteilung wegen Mordes vor fünf Jahren bestimmte der Beruf sein Leben. Er war … nein, verbessert sich Andreas: Er sei Architekt. Mit festen Ritualen kämpfte er während der Monate ohne Arbeit gegen die Trägheit: „Mittags eine Stunde fernsehen, nachmittags lesen, abends Briefe schreiben.“ Er habe ja auch die anderen gesehen. Die, die auf Drogen vor sich hin dämmern. „Im Delirium“, 24 Stunden auf der Matratze. „An die kommt man nicht mehr ran“, sagt auch Pfarrer Dabrowski.

„Die Arbeit ist für unsere Häftlinge sehr wichtig, auch für eine spätere Wiedereingliederung in die Gesellschaft“, sagt Lars Hoffmann, der Pressesprecher der JVA. Es gibt 15 Betriebe auf dem Gefängnisgelände. Trotzdem haben nur 60 Prozent der 1.700 Insassen einen Job oder Ausbildungsplatz. Die vom Gesetz verordnete Arbeitspflicht für Gefangene besteht mangels Arbeit nur auf dem Papier. „Wir zwingen hier keinen“, sagt Hoffmann. „Unser Problem sind vielmehr die, die warten.“ Ein Häftling verdient zehn bis 15 Euro pro Tag. „Nicht viel, dennoch haben wir Schwierigkeiten, neue Gewerbe anzusiedeln“, erklärt Hoffmann. „Viele Gefangene haben keine Ausbildung, und in einigen osteuropäischen Ländern wird offenbar noch billiger produziert.“

„Arbeit findet man hier nur, wenn man Freunde hat, die einen weiterempfehlen“, sagt Andreas. „Der offizielle Weg über die Verwaltung bringt nichts, das habe ich schnell gemerkt.“ Er hat Mithäftlinge auf dem Hofgang nach Arbeit gefragt. Einer hat gesagt, er könne sich gut ausdrücken, und ihn für die Redaktion der Gefangenenzeitung Lichtblick vorgeschlagen. „Das ist eine schöne Stelle. Aber ich hätte auch Klos geputzt – nur raus aus der Zelle.“ „Draußen“ hat er für Anerkennung und Geld gearbeitet. In der JVA wollte er einfach nur beschäftigt sein. Die 18 Tage Urlaub nimmt er nicht.

Klaus, der Maschinenbauer, arbeitet inzwischen als Gärtner. Um 6.30 Uhr packt er ein belegtes Brot in die Hosentasche und klemmt sich eine grüne Karte an die Jacke seines Blaumanns. „Mit der Karte darf ich ohne Aufsicht zu meiner Arbeit gehen und mich dort frei bewegen.“ Eine Beamtin öffnet ihm das Tor zur Gärtnerei, die eingezäunt in der Mitte der Gefängnisstadt liegt. „Im Gewächshaus vergesse ich manchmal, wo ich bin“, erzählt Klaus. Beim Umtopfen neckt er seine Vorarbeiterin. Die lacht und sagt: „Der Klaus ist ein Charmeur.“ Klaus lacht mit. Später sagt er: „Man darf sich aber nicht zu sicher fühlen.“ Die kleinen Freiräume, über Monate und Jahre erkämpft, könnten schnell verloren gehen. „Es gab da mal einen Beamten, der mich nicht mochte und wollte, dass ich gefeuert werde. Da hätte ich fast wieder bei null angefangen.“

Klaus arbeitet bis 15 Uhr. Auch die Nachmittage hat er fest verplant: montags Computergruppe, dienstags Besuch, mittwochs Bibelstunde, freitags Bastel-AG. „Ich habe mir gerade ein Boot geschnitzt“, erzählt Klaus, „ich hatte mal ein Boot, ein richtiges.“ Andreas lacht: „Draußen würde der Klaus wohl keine Boote und Pizzabrettchen schnitzen.“ Es klingt sarkastisch.

Doch auch Andreas hangelt sich mit Arbeit und Hobbys „von Tag zu Tag“. Er geht in die Bibelgruppe, sonntags in die Kirche und schreibt jeden Abend Tagebuch oder Gedichte. Dazu hatte er früher keine Zeit. „Ich wäre auch gar nicht auf die Idee gekommen, etwas anderes als meine Geschäftspost zu schreiben. Aber man darf das Leben im Gefängnis nicht mit seinem normalen Leben vergleichen. Man muss in seinem begrenzten Rahmen denken und planen.“

Dennoch gibt Andreas das Gerüst, das er sich gebaut hat, nicht immer Halt. „Weil das System im Gefängnis keine Zukunftsplanung ermöglicht.“ Ob er nach 15 Jahren eine Haftverkürzung auf Bewährung bekommt, weiß er nicht. „Und wenn – ich würde es erst wenige Wochen vorher erfahren.“ Diese Ungewissheit bremst den Antrieb, wie auch der große Brocken an Tagen und Jahren, der noch vor ihm liegt. „Das muss man verdrängen und weitermachen.“