Die zweite Reformation

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Die christliche Welt ist die Welt, wie sie geworden ist: Durch Aufklärung, Eroberung und Erwerbsdrang

Herrscher des Himmels erhöre das Lallen, lass dir die matten Gesänge gefallen …

J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, 3. Kantate

„Gottesdienst?“, maulte meine Nichte, als wir wieder draußen standen, „das war doch eher ’ne Wärmestube für Loser.“ Ich hatte ihr nichts entgegenzusetzen. Es war Heiligabend, die Ente war gegessen, Johnny Cash hatte gesungen, draußen klangen die Glocken – und wir wollten die Probe aufs Exempel machen, angestiftet von unserer Wochenzeitung. Die hatte von einer „weltweiten Renaissance der Religion“ gekündet: im Gegenzug zum Islamismus gebe es auch in Deutschland eine Wende zum „Wieder-glauben-Wollen“. Und das wollten wir mal überprüfen, angesichts all der Debatten um Kopftücher, Buttiglione und das „christliche Wertefundament“.

In der Kirche saßen hundert Menschen. Der Pfarrer erzählte freundlich vom Dunkel der Nacht, in dem Verzweiflung, aber auch Liebe nisten, von Jesus, in dem Gott zum Menschen wurde. Die Lieder jubelten verhalten über den Erlöser, eher spendeten sie Trost in Moll. Nach der Lukas-Geschichte spielte sanft ein Saxofon, und am Ende rezitierte eine Katechetin Rio Reiser: „Am Anfang der Welt war da ein Licht / Ein Licht, das das dunkelste Dunkel bricht / ein Blitz ein Strahl ein Wort ein Klang / das Licht, das Licht, mit dem alles begann // Da war ein Wort am Anfang der Welt / Das Wort, das die dunkelste Nacht erhellt / Das Wort war Liebe, war das Wort / Und das ist der Schlüssel zum großen Tor // Und jetzt ist ein Irrlicht da / Wir sind verwirrt und sehen nicht mehr klar / Was ist gelogen und was ist wahr / Die ganze Welt ist in Gefahr …“ Von der Empore spielte das Saxofon Variationen zu „Gelobet seist du, Jesus Christ“, es klang ein wenig wie Garbarek.

„Wir müssen hier raus“, murmelte die Nichte neben mir. Und dann standen wir wieder in der Nacht und suchten eine Kneipe. Wo wäre es also, das Licht, das uns jetzt fehlt? Wo zwischen dem waffenstrotzenden Fundamentalismus der „wiedergeborener Christen“, den wachsenden christlichen Massen im armen globalen Süden und der „dunklen Befreiungstheologie“ des Islamismus, der zum „großen Antagonisten des Westens“ avanciert? Was wäre denn das: ein „Westen, der sich wieder christlich definiert“ – zwischen dem satansgläubigen Partisanen-Multi al-Quaida mit seiner hochexplosiven Mischung aus Traditionalismus, historischen Demütigungen und arabischem Nationalismus, und der mit Milliarden ausgestatteten religiösen Paranoia, die zunehmend die USA ergreift: mit einem Präsident, der sein Mandat von Gott empfangen fühlt; einem Kongress, dessen Schlüsselfunktionen von „born-again Christians“ besetzt sind; einer planmäßigen, über zwei Jahrzehnte betriebenen Vernetzung von Business und religiöser Rechten; einem Mediennetzwerk mit hunderten von Sendern, die mal Saddam, die EU, Schwule, Harry Potter und Darwinisten als Antichrist verteufeln; staatlicher Zensur von „Blasphemie“ etc. Wohin werden sich diese spirituellen Konzentrate entladen, wenn der Dow Jones fällt, der Ölpreis und das Elend auf der Welt steigen?

Und unsere theologisch soliden Staatskirchen? Sie folgen dem Kurs der Sozialdemokratie. Vor ein paar Jahren noch – die SPD tönte in der Opposition von Gerechtigkeit – forderten Katholiken und Protestanten im „Sozialwort der Kirchen“, aufs Ganze gesehen, einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus und eine globale soziale Marktwirtschaft; heute verteidigen die führenden Kirchenmänner die „Sozialreform“ Hartz IV und bitten um eine humane Anpassung der Menschen ans Kapital, Bischof Huber plädiert zu Weihnachten für gute Manieren im Umgang der Sozialpartner und ein Herz für Asylanten, Kardinal Lehmann erinnert an die armen Kinder.

Die Kirchen sind so wie ihre Gesellschaften: Die geistige Armut der amerikanischen Gläubigen passt zum grand design einer Elite, die ihr Gesellschaftsmodell der Welt oktroyieren und den Idealismus, der alle Materie in Kapital verwandelt, bis zum bitteren Ende treiben will. Die endzeitliche Wut der Allah-Krieger wächst inmitten einer vorstaatlichen Welt von Kriegsherren und Familienclans aus dem Gefühl historischer Bedeutungslosigkeit und kultureller Unterlegenheit. Gegen diese beiden On-to-Harmagedon-Varianten sind unsere bürokratischen Kirchen im guten wie im schwachen Sinn gemäßigt. Sie sind gewachsen und gehen unter mit dem Sozialstaat, als karitative und spirituelle Lückenbüßer des Kapitals. Die Kraft zur nötigen Reformation bringen sie nicht auf.

Was wäre denn das – eine zweite christliche Reformation? Zunächst eine Selbstkritik, die daran erinnert, dass dieser „Ort der Verlorenen, wo jede Form des Mitleidens, des Engagements füreinander in Kälte und Raffgier erstarrt“ – so die hannoversche Bischöfin Kässmann in ihrer herzbewegenden Weihnachtspredigt, die den Widerstand aus Liebe zur Welt inspiriert –, dass diese kalte, bedrohte Welt auch das Werk der Kirche, dass Aufklärung und der Kapitalismus ihre beiden Kinder sind: Die Wissenschaft, die methodische Lebensführung, die ersten neuzeitlichen Maschinen entstanden in den Klöstern, der Individualismus in der lutherschen Reformation, die Schärfung des Erwerbstriebs im schweizerischen und amerikanischen Calvinismus; der arrogante Universalismus des Westens wurde in den Kreuzzügen und Imperialismen geboren, in die Missionare und Conquistadoren Hand in Hand zogen; und konfessionsübergreifend ist die christliche Erbsünde: der Anthropozentrismus, der Hochmut, dass die Erde den Menschen gehöre zur gefl. Ausbeutung.

Die Kirchen sind so wie ihre Gesellschaften. Unsere Staatskirchen folgen dem Kurs der Sozialdemokratie

Das geistige Erbe der Christentums ist ambivalent: Aufklärung, die Befreiung der Menschen von Existenzangst, Unwissenheit und unlegitimierter Herrschaft, ist die Fortsetzung des Glaubens mit anderen Mitteln; aber auch den Kapitalismus in den Seelen hat diese westliche Religion begründet: den Individualismus und die Heiligung von Erwerb und Weltveränderung um fast jeden irdischen Preis. Schon lange ist der religiöse Geist aus dem „stahlharten Gehäuse“ des Kapitalismus entwichen, schrieb vor genau hundert Jahren Max Weber in seinen religionssoziologischen Studien. Übrig bleibt ein selbstläufiges „Triebwerk“, das „den Lebensstil aller Einzelnen … mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“. Abgetrennt von Ehrfurcht vor dem Gegebenen wird die Wissenschaft, die vom Kapital getrieben wird, ihre Ekstasen der Machbarkeit bis zur Gehirntransplantation und der Besiedelung des Mars treiben. Abgetrennt von der Gleichheitsbotschaft des Evangeliums bereitet uns die Ökonomie Orgien der – rational erklärten – Ungleichheit.

Die christliche Welt, das ist die Welt, so wie sie geworden ist: durch Wissenschaft, Eroberung und Aufklärung, individualisierten Erwerbsdrang und machtbewehrten Missionarismus. Wie immer sie sich verselbstständigt haben und was sie sonst noch treibt: ihrer Herkunft nach sind sie alle untrennbar verbunden mit der Geschichte dieser Religion. Und deshalb setzen wir immer noch einen, wie auch immer schwachen Erwartungsdruck auf sie. Denn, wie sang Rio Reiser: „Wir müssen hier raus!“

Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin