Einsätze aus Überzeugung

Susan Sontag, seit den Sechzigerjahren herausragende US-amerikanische Intellektuelle, ist tot. Für ihr politisches Engagement gefeiert und angefeindet, wollte sie selbst lieber für ihre schriftstellerische Arbeit anerkannt werden

VON HARALD FRICKE

Es gibt sehr unterschiedliche Möglichkeiten, sich in der Welt zurechtzufinden. Man kann die Dinge beim Namen nennen und sich dafür begeistern, dass nichts über diese Tatsächlichkeit hinausweist; man kann die Dinge aber auch langsam zum Sprechen bringen, indem man Stück für Stück ihre Realität im Zusammenspiel mit anderen Realitäten untersucht. Und man kann auf der Suche nach dem wahren Sinn und Inhalt die Welt so lange ausdeuten, dass sie am Ende der Interpretation neben sich steht wie ein zweites Phänomen der Sache selbst.

Susan Sontag hat diese zuletzt genannte Art der Aneignung von Wirklichkeit vehement abgelehnt. Vor allem in Bezug auf alle Formen von Kultur, für die Sontag in ihrem Essay „Gegen Interpretation“ statt einer Hermeneutik eine Erotik der Kunst forderte – und sich genau damit gegen zu viel Psychologisieren und den ewigen Phallus, der angeblich hinter jedem Werk winkte, zur Wehr setzte. Damals war die 1933 in New York geborene und in Tucson, Arizona, aufgewachsene Kritikerin gerade 31 Jahre alt, hatte an der University of Chicago bei Leo Strauss und Kenneth Burke Philosophie, Französisch und Literatur studiert, hatte in Harvard bei Paul Tillich in Philosophie promoviert und nach einem Aufenthalt in Paris nicht nur den französischen Existenzialismus, sondern auch ihre große Liebe zum Kino entdeckt.

Keine Frage, schon in den Sechzigerjahren galt Sontag als eine herausragende Intellektuelle in den USA, die Pornografie ebenso verteidigen konnte wie das Nebeneinander von Hoch- und Popkultur. Als sie in ihrem Text über Camp den Satz „Stil sticht Inhalt“ schrieb, war dies keineswegs ein Lobgesang auf den schönen Schein der Oberflächen, sondern eine gezielte Provokation gegen den Kanon der Erbaulichkeit. An schweren Stoffen hatte auch Sontag nie etwas auszusetzen, nur hießen ihre Klassiker nicht Shakespeare, Dante oder Walt Whitman, sondern Gertrude Stein, Jean Genet und William S. Burroughs. Umgekehrt schrieb sie bei all ihrer Begeisterung für den Film eher über Robert Bresson, Jean-Luc Godard und Nouvelle Vague, während sie sich im Umgang mit Hollywood lieber zurückhielt.

Der Schwung, mit dem sie in ihren Texten Literatur, Theater, Kunst oder Kino auseinander nahm und in den Kontext kultureller Produktion stellte, hat sie nur teilweise zur Ausnahmefigur der US-amerikanischen Kritik gemacht. Denn da war immer mehr: das Anrüchige eines New Yorker Bohemelebens, das sie im Alter – ja, sie hat Drogen genommen! – beatnikhafter aussehen ließ als zu ihren eigenen Beatnikzeiten; ihre ernste und doch mädchenhafte Schönheit, die auf unzähligen Porträts von FotografInnen wie Irving Penn, Richard Avedon und Annie Leibowitz selbst in Modemagazinen von Vogue bis Mademoiselle zirkulierte; oder ihr resolutes Auftreten, mit dem sich die Hannah-Arendt-Bewundererin dank ihrer manchmal giftig schnarrenden Stimme in weitgehend von Männern dominierten Kreisen durchsetzen konnte. Sontag war gefürchtet – als „dark lady of American letters“, als „Paganini of criticism“ und manchmal auch bloß geringschätzend als „literary pinup“.

Keines dieser Attribute hat sie groß berührt, schließlich sah sie sich nicht so sehr als Gegenpäpstin der Kritik, sondern wollte lieber für ihre schriftstellerische Arbeit anerkannt werden. Vier Romane hat Sontag seit den Sechzigerjahren veröffentlicht, für „In Amerika“, die Geschichte einer polnischen Emigrantin, die sich in den USA Ende des 19. Jahrhunderts zwischen einer Karriere als Schauspielerin und dem zähen bäuerlichen Leben in einer Art kalifornischer Kolchose entscheiden muss, wurde sie 2001 mit dem National Book Award ausgezeichnet.

Während aber die Romane in ihrer Erzählweise oft als konventionell, wenn nicht rückwärts gewandt gescholten wurden und beim großen Publikum durchfielen, so ist doch eine Facette von Sontag nie in Frage gestellt worden. Sie war eine Person voller Engagement, die von ihrer politischen Meinung in der Öffentlichkeit immer wieder Gebrauch gemacht hat. Sontag trat gegen den Krieg in Vietnam auf, sie zeigte durchaus medienbewusst ihre Solidarität mit den Menschen in Sarajevo, als sie 1993 während des Balkankriegs in der zerbombten Stadt Becketts „Warten auf Godot“ inszenierte; sie hat sich schon kurz nach dem 11. September nicht davon abbringen lassen, der US-Politik die Mitschuld am Terrorismus zu geben, und auf das imperiale Selbstverständnis von George W. Bush hingewiesen. Wo Law and Order sogar von linken US-Theoretikern wie Michael Walzer eilfertig als beste Lösung verkündet wurden, war sie hellwach.

Auch für diesen Einsatz aus Überzeugung ist sie immer wieder angefeindet worden. „Was haben Ussama Bin Laden, Saddam Hussein und Susan Sontag gemeinsam?“, hieß es in der Wochenzeitung New Republic, die auf die Frage sogleich eine Antwort parat hatte: „Alle drei wollen Amerika zerstören.“ Trotzdem war es am Ende Sontag, die im vergangenen Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, weil sie, wie es ein wenig weihevoll in der Begründung hieß, „in einer Welt der gefälschten Bilder und der verstümmelten Wahrheiten für die Würde des freien Denkens eingetreten“ ist.

Tatsächlich waren es vor allem Kriegsfotografien, an denen Sontag schmerzhaft die Grenzen der Vernunft erkennen musste. In „On Photography“ hatte sie 1977 noch als Generalverdacht formuliert, dass Fotos, zumal solche aus Kriegssituationen, lediglich manipulativen Charakter besitzen und schlimmstenfalls zur Abstumpfung angesichts der Geschehnisse führen. Dagegen schilderte sie in dem vorletztes Jahr veröffentlichten Buch „Das Leiden anderer betrachten“ eindringlich, wie sehr die auf Bildern festgehaltenen Gräueltaten des Krieges, aller Kriege, den Betrachter zwingen, überhaupt Position zu beziehen. Wer die Darstellung von Leiden sieht, muss nicht automatisch eingreifen, aber er kann die Logik und den Automatismus, nach denen Kriege funktionieren, in Frage stellen.

Es gab aber noch eine andere Logik der Bilder, mit der sich Sontag zeitlebens nicht abfinden wollte. Für sie waren Krankheiten wie Krebs oder Aids kein Stigma, vor dem sich die Gesellschaft zurückziehen dürfe, indem sie den Erkrankten selbst die Schuld an ihrem Leiden zuschreibe. Darin sah sie ein unentrinnbares Verhängnis, „sind doch unsere Anschauungen über Krebs und die Metaphern, die wir ihm angehängt haben, in hohem Maße Vehikel für die großen Unzulänglichkeiten dieser Kultur, für unsere oberflächliche Haltung dem Tod gegenüber, für unsere Ängste gegenüber dem Gefühl, für unsere rücksichtslosen, leichtsinnigen Reaktionen auf unsere wirklichen ‚Wachstumsprobleme‘, für unsere Unfähigkeit, eine fortgeschrittene Industriegesellschaft aufzubauen, die den Konsum in angemessener Weise reguliert, ein Vehikel auch für unsere berechtigte Furcht vor dem zunehmend gewalttätigen Verlauf der Geschichte“, wie es am Ende des von Sontag 1977 publizierten Essay „Krankheit als Metapher“ heißt. Jetzt ist sie selbst an einem Krebsleiden im Alter von 71 Jahren gestorben. An dem Resümee ihres Lebens wird es nichts ändern: Man muss den Phänomenen ohne Scheu ins Auge blicken können, eine andere Wirklichkeit gibt es nicht.