Verbrechen erzeugender Charakter

Antitotalitärer Aufguss: Das zweite „Schwarzbuch des Kommunismus“ ist eine regelrechte Mogelpackung. Es liefert Verteidigungsprosa in eigener Sache

VON RUDOLF WALTHER

Das Erscheinen des „Schwarzbuchs des Kommunismus“ wurde im Oktober 1997 in Frankreich zum medialen Ereignis und auch zu einem finanziellen Erfolg. Acht Monate später erschien die deutsche Übersetzung. Hierzulande verlief die Debatte weniger turbulent, wenn man überhaupt von einer Debatte über das Buch reden will. In den meisten Diskussionen ging es nur über das 40-seitige Vorwort, in dem der Herausgeber Stéphane Courtois mit der Oktoberrevolution kurzen Prozess machte.

Dieses Vorwort, das eigentlich François Furet schreiben sollte, hat es in sich. Denn der Eiferer Courtois brachte es fertig, dass sich drei Mitarbeiter, die seriöse Studien über kommunistische Diktaturen in der Sowjetunion, China sowie Mittel- und Südosteuropa zum Buch beisteuerten, von Courtois’ abenteuerlichen Spekulationen sowie der These vom notwendigerweise „Verbrechen erzeugenden Charakter“ des Kommunismus öffentlich distanzierten. Für die deutsche Ausgabe verfasste ein Pfarrer aus der ehemaligen DDR, die Courtois schlicht vergessen hatte, einen Beitrag, der sich in den Fußstapfen des Hauptherausgebers bewegte.

Was Courtois und den Verlag bewogen hat, ein zweites „Schwarzbuch des Kommunismus“ herauszubringen, ist nicht bekannt. Aber auf jeden Fall handelt es sich bei diesem Aufguss um eine regelrechte Mogelpackung. Auf nicht weniger als 257 von 541 stehen drei Beiträge, die mit dem Thema des Buches nur insofern zu tun haben, als sie entweder der Apologie des ersten Schwarzbuches oder ganz anderen Zwecken dienen. Allein Courtois schildert auf 175 Seiten die Rezeption des Buches und liefert seitenlange Rechtfertigungs- und Verteidigungsprosa sowie viel Selbstlob der öderen Art. Auf Kritiker geht er dagegen gar nicht ein oder redet an ihnen vorbei, weil er die Differenz von Vergleichen und Gleichsetzen und die These von der Vergleichbarkeit der nationalsozialistischen mit den stalinistischen Diktaturen trotz deren Singularitäten offenbar nicht versteht.

Er mag es lieber holzschnittartiger wie seine „antitotalitären“ Mitstreiter in Frankreich, für die alles etwa auf dasselbe hinausläuft – außer dass die israelische Armee im Westjordanland und im Gaza-Streifen keinen Verwüstungskrieg führt, sondern sich „antitotalitär“ gegen „den“ Islamismus/Terrorismus verteidigt. Courtois wiederholt nur Phrasen. Dem Expremierminister Lionel Jospin spricht er schlicht das Recht ab, das „Schwarzbuch“ zu kritisieren, weil er als junger Mann einer trotzkistischen Gruppe angehörte.

Alexander Jakowlew, ehemaliges Politbüromitglied der KPdSU und Mitstreiter Gorbatschows, will dem Bolschewismus als „Gesellschaftskrankheit des 20. Jahrhunderts“ beikommen, wobei er abwechselnd physische und psychische Gebrechen herbeizitiert. Aber was erklären solche wilden Analogien? Was hat man von der leninistischen oder stalinistischen Parteidiktatur begriffen, wenn man Lenin zum größten „Russenhasser“, „pathologischen Reaktionär“ und Beseitiger der Religion erklärt?

Außer der überdimensionierten Einleitung enthält das Buch fünf Länderbeiträge. Drei beschäftigen sich mit den ehedem kommunistischen bzw. von der Sowjetunion besetzten Staaten Estland, Bulgarien und Rumänen, die anderen beiden mit Griechenland und Italien. Den Beitrag über Estland schrieb der ehemalige Premierminister und Historiker Mart Laar. Die sowjetische Besetzung Estlands begann 1939/40. Der Autor berechnet die tödlichen Verluste der estnischen Bevölkerung auf 60.000 Personen oder 6 Prozent der Bevölkerung und schildert die Terrorherrschaft des NKWD sehr genau. Mit dem Herannahen der deutschen Truppen kam es zur Deportation von mindestens 10.500 Esten, von denen nur wenige überlebten. Entschieden diffuser sind die Informationen des Autors über die Zahl der ermordeten Juden nach der Besetzung Estlands durch deutsche Truppen. Angaben über die estnische Kollaboration mit den Deutschen und über die Anzahl der deportierten Juden aus den Ghettos in Theserienstadt, Wilna, Kaunas, Bistritz und Kaserwald nach Estland fehlen ganz.

Nach der Wiederbesetzung des Landes durch sowjetische Truppen setzte eine neue Welle von Deportationen ein, während der etwa 20.000 Personen nach Sibirien abtransportiert wurden. Mit Stalins Tod (1953) endete zwar der offene Terror, aber dafür begann die schleichende Russifizierung des Landes – vor allem durch Soldaten und ihre Angehörigen. Am 16. November 1988 erklärte sich Estland als souveräner Staat und bot Moskau eine Union an. Nach dem gescheiterten Staatsstreich vom August 1991 erreichte das Land die volle Unabhängigkeit.

Der Beitrag von Philippe Baillet beschäftigt sich mit der italienischen KP, der einzigen, die in Westeuropa nach 1945 mit rund 1,7 Millionen Mitgliedern mehr Wähler mobilisierte als die demokratische Linke. Und trotzdem, so die These des Autors, war die KPI bis zum Tod Palmiro Togliattis, eine „leninistisch-stalinistische Partei“. Richtig daran ist, dass Togliatti wichtige Teile seiner politischen Prägung in Moskau erhielt, wohin er bereits 1924 geflüchtet war und was ihn geformt hat.

Mit viel Geschick – und Opportunismus – überlebte Togliatti die stalinistischen Säuberungen. Dass er selbst mithalf, die Führung der polnischen KP nach Moskau zu locken, wo sie hingerichtet wurde, hat er zugegeben. Die Belege dafür, dass sich Togliatti bei der „Liquidierung“ von 108 der rund 1.000 italienischen Kommunisten, die nach Moskau geflohen waren, schuldig gemacht hat, sind dürftig und Baillets Gewährsleute suspekt. Bezeugt ist dagegen, dass sich Togliatti für Willi Münzenberg und Jules Humbert-Droz eingesetzt hat. Mit dem Massaker, das jugoslawische Partisanen 1944 unter italienischen Bürgern in Istrien und Dalmatien angerichtet haben, hatte Togliatti nichts zu tun. Den Beitrag Baillets durchzieht ein unaufgelöster Widerspruch. Einerseits behauptet er, Togliattis „neue Partei“ sei bis in die Sechzigerjahre stalinistisch geblieben, andererseits räumt er die Öffnung und „Aufblähung“ der KPI ein, was „entgegen allen leninistischen Prinzipien“ geschehen sei. Insgesamt wirkt dieser Beitrag wie einige andere sehr schnell und fahrig zusammengeschustert.

Stéphane Courtois u.a.: „Das Schwarzbuch des Kommunismus 2. Das schwere Erbe der Ideologie“. Aus dem Französischen v. Bertold Galli und aus dem Russischen von Bernd Rullkötter. Piper Verlag, München/Zürich 2004, 541 Seiten, 24,90 €