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Archiv-Artikel

Die Ungeheuer aus dem Es

Immer vom Schlimmsten auszugehen – besonders bei persönlichen Zukunftsprognosen – ermöglicht eine umfassende Weltkontrolle. Oder? Gedanken über Pessimismus, Psychoanalyse, Staat und Schicksalsergebenheit

VON MICHAEL RUTSCHKY

Unterscheidet man die Leute nach Optimismus und Pessimismus, dann wissen wir sofort, wohin Dr. Abel gehört. Der studierte Philosoph nähert sich seinem sechzigsten Jahr und verdient sein Geld – zuweilen mühsam – als Freiberufler. Keine üppige Pension erwartet ihn; kein blühender Aktienfonds hat Erträge aufgehäuft, die ihm Ferien in der Karibik ermöglichen, damit er den Büroalltag vergesse. Er kann froh sein, wenn er überhaupt was kriegt, und entsprechend trüb – möchte man folgern – schaut seine Lebensstimmung aus. Er ist durch und durch Pessimist.

Alles, was ihn morgens aus der Zeitung anspringt, entspricht seinen Erwartungen. Der wirtschaftliche Aufschwung bleibt aus; die Zahl der Arbeitslosen weigert sich zu sinken. Im Kriegsgebiet – wo immer es gerade liegt – bewiesen die Rebellen erneut mit einem massiven Angriff, dass sie die überlegene Waffentechnik der Amerikaner nicht einschüchtert. Eine Ausstellung neuer iranischer Kunst, die das Landesmuseum veranstaltet, wird im Feuilleton als Politkitsch verrissen – wobei hinzugefügt werden muss, dass Dr. Abel zuweilen durchs Landesmuseum führt und er die junge Kuratorin jener Ausstellung, die energisch-lebensfrohe Dr. Zweig, mit väterlichem Wohlwollen beobachtet.

Was uns hier an Dr. Abels Pessimismus beschäftigen soll: dass er ihm so etwas wie umfassende Weltkontrolle ermöglicht. Gestaltet sich das Wetter unfreundlich, kühl und feucht, mit dicken Wolken und Regenschauern, so war er darauf ebenso gefasst wie auf diese Sommerhitze, die alle stöhnen macht und bei den Apokalyptikern die Predigten abruft, jetzt endlich müsse die Industriegesellschaft erkennen, wie sie das Weltklima ruiniert habe. Die Aussicht auf eine Katastrophe lässt Dr. Abel ohne Erregung; sie käme ihm gerade recht, er hat es doch immer gewusst.

Was der Pessimismus Dr. Abel dergestalt erspart, das sind Überraschungen. Sicher, heute morgen, als er mit dem Hund auf die Straße ging, regnete es unentschlossen in dünnen Tropfen, und für den großen Vormittagsspaziergang im Stadtwald blieb unklar, ob man einen Schirm mitnehmen müsse. Aber dann, am Abend, zeigte sich der Himmel über und über hellblau, und die Hauswand gegenüber malte der Sonnenschein als Feenpalast. Dr. Abel fiele dazu nur ein, dass das schöne Wetter natürlich zu spät am Tag kam, um richtig Freude zu machen. Und dann hielte er einen kleinen Vortrag über die Unzuverlässigkeit der Wettervorhersagen.

Der Pessimist ist ein Kontrollfreak. Unmöglich kann er sich dem Laufe der Begebenheiten, so wie sie kommen, überlassen. Dass er sich vor allem an die unglücklichen Begebenheiten, an die schlechten Nachrichten hält, dient dieser Kontrolle: Wer möchte schon auf Glücksmomente vertrauen? Zumal ein jeder auch seine Kehrseite hat. Tage mit strahlendem Sonnenschein machen alternden Leuten gern Kreislaufprobleme. Der Sieg der guten Seite im Kriegsgebiet garantiert Frieden, ermöglicht Wohlstand nur für eine gewisse Weile. Dann ist die gute Seite plötzlich zur bösen geworden; lebhaft kann Dr. Abel die Zeiten beschwören, als Robert Mugabe Präsident des hoffnungsvollen Simbabwe wurde und dort Wohlstand für Weiß ebenso wie Schwarz zu gewährleisten schien, Simbabwe, das unter dem Namen Rhodesien eine Apartheidsdiktatur gewesen war. Robert Mugabe liquidierte sie friedlich – im Lauf der Zeit aber, triumphiert Dr. Abel, verwandelte er sich selbst in einen üblen Diktator. So geht’s.

Es fällt auf, dass Dr. Abels Lebensgeschichte sich keineswegs als Meisterwerk eines Kontrollfreaks darstellt; man bedenke allein die Unsicherheit seiner Rente. Frisch zum Doktor gebacken, verzichtete er darauf, die akademische Karriere weiterzuverfolgen, obwohl sein Doktorvater ihm eine Stelle zu verschaffen versprach und schon ein Habilitationsthema aus ihm herausgehorcht hatte. Seine Zeit als Gymnasiallehrer absolvierte Dr. Abel – so behauptet er jedenfalls heute – von vornherein nur als Provisorium. Sein Leben dem Schuldienst zu weihen, am Ende vielleicht eine Stelle in der Kultusverwaltung zu besetzen, nein, das wollte er unbedingt vermeiden.

Dass ihn sein Schicksal dann in die akademische Boheme verschlug und sich seine Selbsterhaltung einem Sammelsurium von Nebentätigkeiten verdankte, das erfüllte Dr. Abel lange mit einem gewissen Stolz, Museumsführungen, ein bisschen Radio und Zeitungsschreiberei, Volkshochschulkurse, Theaterarbeit und Ausflüge in die Therapieszene. Das sah alles so aus, als verfüge Dr. Abel über einen gesunden Fatalismus, der ihn darauf vertrauen machte, dass sich, gäbe man diese Gelegenheit auf, bald eine neue einstelle. In einer Hinsicht allerdings ließ es Dr. Abel an einer gewissen Schicksalsergebenheit entschieden fehlen. Und das seit langem, genau besehen: seit seiner Jugend. Über den Gegenstand, der hier der Kontrolle unterworfen werden soll, kann Dr. Abel so gut wie gar nicht reden. Sogar der Humor fällt aus. Es geht um Dr. Abels Körper.

Im Lauf der Jahre wurde er fett. Und das über dem seit der Adoleszenz anhaltenden Versuch, schlank zu bleiben. Dr. Abel gehört zu den Männern, welche Zeit ihres Lebens die Überzeugung durchdringt, sie hätten ihre Idealfigur mit vierzehn Jahren gehabt; und jetzt komme alles darauf an, wieder dorthin zurückzukehren. Seit seinen Ausflügen in die Therapieszenen weiß Dr. Abel, dass das irgendetwas mit den bewundernden Blicken zu tun hat, mit denen Mutter das vom Knaben zum Jüngling heranreifende Söhnchen bedeckte – aber dies Wissen ist für Dr. Abel praktisch nutzlos, ich meine, es misslang diesem Wissen, die Schlankheitskur erfolgreich anzuleiten. Was wenig verwundert; wie sollte sie den Vierzehnjährigen wiederherstellen können?

Als Familienmitglied entging es ihm noch, aber in seinen Zwanzigern entdeckte Dr. Abel, dass er ein guter Esser ist. Er machte was draus, er lernte aufwändig kochen und überraschte seine Liebste mit üppigen Diners. Als Vorspeise Kalbsbries mit frischen Champignons; als Hauptgang provenzalisches Rindfleisch mit Oliven. Dann ein Feigensalat mit Portweincreme und später Käse. So etwas war in den späten Sechziger-, frühen Siebzigerjahren noch ganz unüblich, Dr. Abel antizipierte den Hedonismus der Achtziger. Doch schlug sich das gute Essen in reichlich Fett schon auf dem Mittzwanziger nieder, der das keinesfalls dort lassen konnte. Gerade das Geschlechtsleben – auf das der junge Abel im Rahmen damaliger Überzeugungen auch theoretisch äußerst erpicht war – läuft ja über die narzisstische Besetzung des eigenen Fleisches, und wenn der junge Abel, für die Liebste sich entkleidend, der Fettrollen an seinem Bauch ansichtig wurde, machte ihn das flau. Ebenso schmälerte das Fett das Sonnen- und Schwimmvergnügen im Freibad, am See oder im Meer – der junge Mann zeigt sich ja gern halbnackt bei Körperfreuden an der frischen Luft – und der junge Abel sann auf eingreifende Abhilfe.

Er entdeckte ein Rezept für scharfe Fastenkuren, irgendein Gebräu aus kalkfreiem Weizengrus oder weizenfreiem Kalkgrus, das man täglich trinken musste, um komplett appetitfrei zu werden, und das über einen Monat angewandt jedes Übergewicht beseitigen sollte. So entsprach es den Kontrollgelüsten des jungen Abel. Einerseits reuelos das Kalbsbries mit Portweincreme, das Rindfleisch mit Champignons, den Feigensalat mit Oliven; anderseits scharfe Abmagerung im Frühling, vor der Badesaison, um der Liebsten keine Schande zu machen, wenn man cliquenförmig ins Freibad zieht, mittels des regelmäßigen Trunks von Kalkweizengrus (der einen ekelhaften Mundgeruch erzeugt, was den jungen Abel während der Frühjahrskur die Einsamkeit suchen ließ, die wiederum seinen Kontrollbedürfnissen entsprach).

Doch brachten diese Kuren das Fett nur unvollständig in seine Gewalt. Nehmen wir an, er habe 1974 insgesamt fünf Kilo zugelegt, so nahm er im Frühjahr 1975 dank des ekligen Tranks in sechs Wochen drei Kilo wieder ab; und fühlte sich als Herr der Lage. Wenn er aber – dank provenzalischem Kalbsbries, Rindfleisch mit Feigen, Oliven in Portweincreme – im Jahr 1975 wieder fünf Kilo an Gewicht gewann, dann hätte er im Frühjahr 1976 schon sieben Kilo abschmelzen müssen, um auf den Stand des Frühjahrs 1975 zurückzukehren.

Hält man sich an das Schema, so vergrößerte sich Dr. Abel jedes Jahr um zwei Kilo, was in zehn Jahren zwanzig ergibt, ein sehr ordentlicher Bauch. Vorzüglich durch die Kontrollmaßnahmen entstanden, die ihn verhindern sollten. Die Plauze, die ihn morgens, wenn er sich über das Waschbecken beugt, von unten dick anlacht, endlos kann Dr. Abel grübeln, mittels welcher Maßnahmen er es vor dreißig Jahren doch hätte schaffen können, sie im Keim zu ersticken. Immer noch keine Spur von Schicksalsergebenheit in dieser Hinsicht. Auch die Erinnerung an seine Eltern, die sich während der Fresswelle in den Fünfzigern unglaubliche Wampen zulegten, kann Dr. Abel nicht trösten; den Zeitungsberichten neulich, das Körpergewicht sei wohl vor allem genetisch bedingt, misstraut er. Bei seinen Eltern war es der Hunger der Nachkriegszeit, sagt er sich hartnäckig, bei ihm der Mangel an Kontrolle über seinen Appetit auf feines Essen.

Unsere Freundin Jutta kann mit ihren 62 Jahren immer noch die Konfektionsgröße 38 tragen, und Dr. Abel erfüllt es mit Neid, wie sie bei gemeinsamen Mahlzeiten reinhaut. Du hättest immer so essen sollen, wie es dir schmeckte, pflegt sie dann zu wiederholen, statt deinen Kontrollbedürfnissen zu folgen. Sie haben dich viel zu hungrig und deshalb dick gemacht. Was mich im Übrigen kein bisschen stört; du schaust freundlich und rund aus, während ich wahrscheinlich als scharfe Zicke ende. So hat es das Schicksal letztlich doch gut mit dir gemeint. Du hättest dich einfach früher darein ergeben sollen.

Dem Strukturalismus folgend, wie er in ihren Kreisen während der Siebziger in Mode kam und wie er Unzusammenhängendes schlagend zu vergleichen erlaubt, dem Strukturalismus folgend hält unsere Freundin Jutta mit Leidenschaft kritische Vorträge über die Bürokratie und den Wohlfahrtsstaat beim Anblick von Dr. Abels Plauze. Verdanken nicht auch Bürokratie und Wohlfahrtsstaat sich hypertrophen Kontrollversuchen über Schicksalsmächte, denen man klug nachzugeben rechtzeitig lernen sollte? So wie Dr. Abel seiner Esslust hätte folgen sollen; die ihn im Lauf der Begebenheiten nicht dicker gemacht hätte, als er jetzt ist?

Lustig kann unsere Freundin Jutta von ihrer alten Mutter erzählen, dem – wie sie sich ausdrückt – Blumenbeet an Pillen, das sie in ihren letzten Jahren täglich schluckte. Und alles auf Rezept, von der Kasse bezahlt, sogar die Vitamintabletten, von denen der Arzt eines Tages meinte, sie könnten ihr gegen die morgendliche Benommenheit helfen.

Klar, die Generation ihrer Mutter, ihrer Eltern – mit den schauerlichen Kriegs- und Nachkriegserfahrungen – gewann die Bundesrepublik für sich, indem sie den Apparat der rechtlichen Regelungen und der Daseinsfürsorge immer weiter ausbaute. Dass irgendetwas Schicksal sein oder wie Schicksal funktionieren könnte, das man intelligent zu ertragen habe: undenkbar. Krankheiten sind grundsätzlich heilbar, deshalb die notwendigen Mittel bereitzustellen. Erklären sich die Mediziner für hilflos, wurde einfach noch nicht in die richtige Forschung investiert, und Jutta geht lustig zur Kapitalismuskritik über, derzufolge die Industrie halt nur in profitversprechende Entwicklungen investiert, statt in rundum humane, eine Humanität, spottet Jutta, für die halt der Staat aufzukommen hat, was ihn wie Dr. Abels Plauze immer fetter macht.

Gern geht Jutta dann über zur Kritik der westlichen Lebensweise, ich meine, sie spottet über die Anhänger östlicher oder so genannter Naturheilverfahren, die es beklagen, dass die Krankenkassen sie in der Regel nicht bezahlen. Als neulich die Homöopathie von der Subventionierung ausgenommen zu werden drohte, jeder solle die Kur, so er sie wünscht, selber finanzieren, und der entsprechende Klagesturm sich erhob, feierte Juttas Spott besondere Triumphe. Niemals sind durch verlässliche Verfahren irgendwelche Heilerfolge der Homöopathie nachgewiesen worden, und trotzdem soll der Staat die Kur garantieren – das ist doch zum Lachen.

Warum nicht gleich Handlesen und Astrologie auf Krankenschein? Im Privatfernsehen bewundere sie zuweilen eine magere Frau mit schwarz gefärbten Haaren, die mittels des Rauchs, der von einer Zigarette aufsteigt, Zukunftsfragen von Anrufern beantwortet – nein, ich sehe hier keine Liebesenttäuschung für Sie in diesem Monat – bis hundertprozentig bewiesen ist, spottet Jutta, dass keine dieser Vorhersagen eintritt, könnte man doch staatliche Förderung der Rauchlesekunst fordern.

Jetzt ist sie aber zu weit gegangen. Niemand fordert, dass der Staat die Zukunftskontrolle mittels Wahrsagerei subventioniere. Ich könnte aber meine alte Freundin Dr. Gieseking auftreten lassen, die dabei war, als der Staat, um die Schicksalsmächte zu kontrollieren, ein ganzes Tätigkeitsfeld kolonisierte.

Dr. Gieseking ist Psychoanalytikerin in der Freud’schen Tradition, jene merkwürdige Disziplin, die in den Siebzigerjahren mal richtig in Mode war. Als junge Frau von 35 Jahren unterzog sich unsere Freundin Jutta einer solchen Psychoanalyse; seit je, so meinte sie, scheitere sie in der Liebe ebenso wie in der Arbeit, und sie müsse endlich den Dämonen ins Gesicht sehen, die hier am Werk seien, Schicksalsmächte aus ihrer Kindheit. Was in einer Psychoanalyse geschieht, so Dr. Gieseking, spielt sich allein zwischen Analytiker und Analysand ab. Dritte blieben draußen. Weder bestellte Juttas Analytiker damals ihren Ehemann ein, um sich mit seiner Hilfe ein Bild über ihr zerrüttetes – wie Jutta anhaltend klagte – Liebesleben zu machen. Noch suchte Jutta einen zweiten Analytiker auf, um die Kompetenz des ersten zu überprüfen. Und hier, so Dr. Gieseking, änderte sich seit den Siebzigerjahren Entscheidendes.

Jutta bezahlte damals ihre Analyse noch von eigenem Geld – seitdem gelten seelische Störungen aber als anerkannte Krankheit, deren Heilung durch die Kasse bezahlt wird. Der Neurotiker besitzt einen Anspruch auf eine gewisse Anzahl Stunden, und Dr. Gieseking begann ihre Analysanden zu begutachten, ob sie Neurotiker im anerkannten Sinne seien, die Krankenkassengeld zu beanspruchen hätten. Dritte lasen diese Gutachten und entschieden. War das Stundenkontingent aufgebraucht, wurden neue Gutachten nötig; Dr. Gieseking musste über Lernfortschritte und Heilungschancen an jene Gutachter berichten.

So geriet die Psychoanalyse – so Dr. Gieseking – allmählich in fremde Hände. Analytiker und Analysand, die Hauptpersonen, wurden enteignet. Inzwischen nehmen die Kassen, so Dr. Gieseking, Einfluss auf die Anzahl der Wochenstunden, die ein Analysand benötigt. Man hat befunden, dass drei genügen – während wir immer der Überzeugung waren, dass eine orthodoxe Analyse mindestens vier Stunden braucht.

Aber das ist hier nicht der zentrale Punkt. Sondern dass ein Verfahren wie die Psychoanalyse unter öffentliche Kontrolle gebracht wird. Der Staat möchte garantieren, dass du die Mitgift, welche deine böse Mutter für dein Leben bedeutet, abarbeiten kannst dank einem Verfahren wie der Psychoanalyse. Aber das lässt sich keinesfalls garantieren. Im Gegenteil, wer es zu garantieren versucht, gefährdet die Erfolgschancen – meist läuft es ja so, erklärt Dr. Gieseking, dass der Analysand seine subventionierte Stundenzahl wahrnimmt, und alle folgenden aus der eigenen Tasche zahlt: jedenfalls bei den Analysanden, mit denen die Arbeit lohnt. Und in fünfzig Jahren werden die ausführlichen Untersuchungen erscheinen, wie gründlich die Verstaatlichung der Psychoanalyse geschadet hat.

Hier könnte Dr. Abel intervenieren, der sich in jüngeren Jahren auf dem weiten Feld der Psychotherapien getummelt hat. Aber er blieb immer ein Gegner Freuds; und dann brachte ihn dies Interesse in größte Schwierigkeiten an seiner Schule. Man warf ihm vor, gegen ihren Willen therapeutische Sitzungen mit seinen Schülern abzuhalten, und das klang schon fast nach sexuellen Verfehlungen. So ließ Dr. Abel, seit er das Gymnasium verließ, die Finger von diesen Seelendingen. In der Tat hatten sie sich zu Schicksalsmächten geballt, die in seine Lebensführung eingriffen. In einem ganz anderen Sinn aber, als die Therapien versprachen …

So kann ich wiederum unsere Freundin Jutta intervenieren lassen, die sich aufgrund ihrer Profession auf solche Geschichten versteht. Wie häufig in juristischen Verfahren beispielsweise ein Täter dazu verurteilt wird, sich einer Therapie zu unterziehen – man liest das auch gern in der Zeitung, insbesondere, wenn es um Sexualstraftaten geht. Oft kommt die angeordnete Therapie in den Gerichtsshows vor, bei denen im Nachmittagsfernsehen erfundene Fälle verhandelt werden. Aber Therapie, so Jutta, kann man nicht richterlich anordnen; wer sich ihr unterzieht, muss das freiwillig tun. Sonst kommt es bei den Häftlingen zu diesem ekelhaften psychobabble, wie man im Englischen sagt. Sie versuchen ihrem Therapeuten nach dem Munde zu reden, weil sie sich davon Straferleichterung versprechen. Ich musste einfach zuschlagen, geht das dann – weil der Fitti solchen Stress gemacht hat, und meine Frustrationstoleranz ist doch sehr gering, weil meine Mutter mir nie genug Raum gelassen hat für meine Gefühle. Oder so ähnlich.

Überhaupt könne sie uns – Jutta kommt in Fahrt, und das sehen wir gern – unglaubliche Geschichten erzählen im Hinblick auf diese Mischbildungen, wie sich Therapie und Staatsgewalt hier durchdringen. Wie das Jugendamt und das Familiengericht der Ehefrau jenes Fitti, der im Knast sitzt, das Sorgerecht für die Tochter entzogen haben, und das ist nicht nur einfach eine juristische Maßnahme, gegen die man andere juristische Maßnahmen ergreifen könnte. Sondern irgendwie auch eine therapeutische, die eine Anzahl von Beratungsgesprächen mit der Mutter erforderlich macht, Gespräche, die sich über Monate hinziehen und nie zu einer Entscheidung kommen. Das sind die neuen Schicksalsmächte, tobt Jutta. Früher nahm dir der Fürst oder sein Stellvertreter das Kind weg, weil es ihm so beliebte, und gegen dies Belieben gab es keinen Einspruch. Heute nimmt dir die demokratische Staatsgewalt das Kind weg und erklärt dir tiefenhermeneutisch, wieso das zum Besten des Kindes sei, wieso das Kind im Innern die Trennung wünschen müsse, und wenn du dagegen protestierst, weisen sie dich darauf hin, dass du schon wieder so aggressiv wirst, und eben diese Aggressivität könne man dem Kind auf Dauer unmöglich zumuten. Oder so ähnlich.

Dies sind die neuen Schicksalsmächte!, triumphiert unsere Freundin Jutta. Und wer klug ist, kommt gar nicht erst in ihren Einflussbereich. Die Unterklassen, so Jutta, wenden sich ans Familiengericht, wenn es um Scheidung und die Regelung für die Kinder geht, und liefern sich so diesen neuen Schicksalsmächten aus. Aufgeklärte Bürger, die ahnen oder wissen, wie der Laden läuft, haben alle Scheidungsprobleme längst von ihren Anwälten klären lassen, bevor sie zum Gericht gehen. Aufgeklärte Bürger zahlen ihre Analysestunden selber und unterwerfen sich keinem Gutachterverfahren, das nur zusätzliche Probleme schafft. Sie haben schon an ihren höchstpersönlichen Problemen genug. Dass es den Unterklassen schon an Geldmitteln fehlt, sich einen anständigen Anwalt oder Analytiker zu besorgen, kompliziert ihre Lage zusätzlich; der Staat interveniert als Wohltäter und schafft eigene Probleme …

Es sind, könnte man sagen, die alten Schicksalsmächte, die der aufgeklärte Bürger anerkennt, denen er sich ergibt. Dass die Liebe schweres Unglück zeitigen kann, das eine Ehe sprengt; wie die Ungeheuer aus dem Es das Leben des aufgeklärten Bürgers so einschneidend regieren, dass er sich nicht mehr weiterzuhelfen weiß. Hier richten umgreifende Kontrollbedürfnisse nur Schaden an, und es empfiehlt sich Nachgeben, ein aufgeklärter Fatalismus.

Es fragt sich aber, ob dies überhaupt der Punkt war, den wir ansteuerten. Außerdem sind unsere bisherigen Informanten recht alt, um die sechzig, Dr. Gieseking hat sogar die siebzig überschritten; es bleibt ihnen ohnehin nichts anderes übrig als sukzessive Ergebung, Resignation. Es wird Zeit, dass wir Dr. Zweig einvernehmen, 35 Jahre alt, Kuratorin im Landesmuseum, elegant und erfolgreich und in anderen Zusammenhängen gut als Gegenspielerin zu Dr. Abel und seinem Pessimismus einsetzbar.

Dabei kann sich Dr. Zweig mit aller Kraft ihrer Vitalität furchtbare Sorgen machen, die zu allem anderen als Fatalismus herausfordern. Nehmen wir den Amoklauf in Erfurt, als er noch mal durch die Zeitungen ging. Ein entlassener Schüler, der im Schützenverein ist, läuft eines Morgens durch seine ehemalige Schule und ballert die Leute nieder. Dr. Zweig kann vollkommen verstehen, weshalb niemand mit der Aufklärung des Verbrechens zufrieden ist. Hatte Robert Steinhäuser wirklich keinen Komplizen? Warum rückte die Polizei nur so zögernd in das Gebäude vor? Hätte man nicht noch mehr von den Verletzten retten können? Leidenschaftlich engagiert fühlte sich Dr. Zweig bei den fälligen Debatten: Was löst einen solchen Amoklauf aus? Der Junge versank in Computerspielen; seine Entlassung aus der Schule war vermutlich inkorrekt. Seine Eltern schienen keine Ahnung zu haben, was in ihm vorging; die Familienkommunikation war alles andere als befriedigend.

Es gab damals Diskussionen mit Dr. Abel (dem in anderen Zusammenhängen als einem Pessimisten solche Sorgen nur zu nahe liegen). Er pflegte die Erklärungen ein wenig umzuschreiben, um sie ad absurdum zu führen. Wenn die Familienkommunikation besser funktioniert hätte, wäre Robert Steinhäuser dann mit seinen Mordplänen zur Mutter gekommen und hätte sich offenbart? Wenn die Computerspiele ihn nicht so vereinnahmt hätten, wären die Mordpläne in seinem Kopf dann gar nicht erst entstanden? Also verbieten wir diese Computerspiele, und solche Amokläufe sind künftig ausgeschlossen. Wie steht es um die Schützenvereine? Sie müssten garantieren können, dass keines ihrer Mitglieder Waffen zu anderen als rein sportlichen Zwecken verwendet.

Nur, wie kontrolliert man das? Indem niemand eine Waffe nach Hause mitnehmen darf. Aber er kann sich anderswo Waffen besorgen und seine im Schützenverein erworbenen Schießkünste in seinem ehemaligen Gymnasium praktizieren. Also einfach alle Waffen verbieten? Aber das, so Dr. Abel, ist immer das Schwierigste, und er erzählt mal wieder vom Alkoholverbot, von der Prohibition in den Vereinigten Staaten, 1917 bis 1933, die es der Mafia erst ermöglicht habe, stabile Strukturen aufzubauen.

Meinen Sie, so Dr. Zweig seinerzeit fast verzweifelt, dass man gegen einen Gymnasiasten, der Amok läuft, letzten Endes machtlos ist? Dass so etwas Schreckliches halt geschehen kann, dass man es ertragen muss? Der Gedanke ist abscheulich; unmöglich könne sie ihre Tochter morgens vertrauensvoll in die Schule schicken, wenn immer mal wieder ein Massenmord anstehe.

Versteht sich, dass solche Katastrophen Dr. Zweig nicht nur bedrohen, wenn sie in ihr persönliches Leben einbrechen könnten. Eben ging noch einmal Ruanda durch die Presse, der Massenmord der Hutu an den Tutsi, und Dr. Zweig haderte mit Dr. Abel, weil niemand eingegriffen und das Schlachten unterbunden habe. In der Tat verhält es sich so, dass das Räsonnement, dem Dr. Zweig in ihrer Vitalität die Ereignisse unterwirft, sie gewissermaßen ungeschehen machen sollen. Mit Einverständnis, fast mit Begeisterung folgte sie den Verhandlungen der Kommission, welche die Versäumnisse der Bush-Administration betreffend den 11. September aufklären sollte. Keineswegs konnte sie Condoleezza Rice zustimmen, die in ihrer Aussage behauptete, der Angriff mit den Passagierflugzeugen sei unvorhersehbar gewesen.

Dankbar las Dr. Zweig die Zeitungsmeldung, der Präsident sei sehr wohl vor al-Qaida gewarnt worden. Bloß beschäftigte ihn, wie Dr. Zweig zornig folgerte, die ganze Zeit schon viel intensiver sein Kriegsplan gegen den Irak – glauben Sie wirklich, unterbrach Dr. Abel milde, die beiden Türme würden noch stehen, wenn der Präsident die Warnung korrekt apperzipiert und von seiner Irakobsession abgelassen hätte? Das sind doch reine Gedankenspiele, zu denen Ihr Tatendrang Sie verführt, liebe Frau Doktor. Sie wollen das Unerträgliche ungeschehen machen. Aber es ist geschehen, unwiderruflich.

Es wird deutlich geworden sein, dass die erfolgreiche und elegante Dr. Zweig – ohne es richtig zu merken – mit ihren leidenschaftlichen Sorgen ziemlich genau dem Geschehen folgt, das in der Zeitung jeweils Hauptthema ist. So machte sie sich, als eben die Überalterung Deutschlands bedacht wurde, wie wenige junge Leute es im Jahr 2020 geben werde, schwere Gedanken über ihr eigenes Alter. Im Jahr 2020 ist sie knapp fünfzig; da würde sie, sagt sie, doch gern einer sicheren Rente, einer garantierten medizinischen Versorgung entgegensehen. Und da müsste doch die Regierung jetzt, genau jetzt die Voraussetzungen schaffen. Aber nach allem, was man liest, gelingt das der Regierung nicht; auch hören sich die Vorschläge konfus und widersprüchlich an, man könnte meinen, wir haben gar keine richtige Regierung, die die Dinge unter Kontrolle bringt.

Ach, wissen Sie, so Dr. Abel, was im Jahr 2020 ansteht, ist doch ohnehin ungewiss. Vielleicht hat gerade die Ukraine Deutschland den Krieg erklärt – oder umgekehrt –, und weil die Amerikaner sich auf ihren eigenen Kontinent zurückgezogen haben, gewährt die Nato keinen Schutz mehr, sie löste sich 2015 auf. Weil sie einst zur Sowjetunion gehörte, verfügt die Ukraine über ein ordentliches atomares Drohpotenzial und kann die Bundesregierung unter Kanzler Koch ordentlich erpressen.

Aber was, spottet Dr. Zweig, sollte ausgerechnet die Ukraine von uns haben wollen? Das werden wir wissen, spottet Dr. Abel zurück, wenn es so weit ist. Das Merkwürdige an diesen Zukunftsängsten ist doch, dass sie im Augenblick immer perfekt einleuchten, man weiß genau, welche Gefahren drohen, man weiß es mit halluzinatorischer Gewissheit. Aber was dann kommt, überrascht immer gründlich. Niemand hat es vorausgesagt, oder jedenfalls nicht so vorausgesagt, dass es sich realistisch als Zukunftsangst in der Gegenwart materialisierte.

Waren Sie, so unsere Freundin Jutta zu der jugendlichen Dr. Zweig, im mindesten darauf vorbereitet, dass sich nach dem Kalten Krieg gleich eine neue Front gegenüber dem Westen aufbaut? Sagen Sie jetzt nicht, man hätte es wissen können, der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern und so weiter. Eine Attacke wie die auf das World Trade Center fehlte in der Fantasie von uns Zeitungslesern, und es ist vermutlich ganz unmöglich, politische Planungen auf so etwas einzustellen.

Aber es verhält sich ja auch so, mischte ich mich ein, dass sogar die persönlichen Zukunftserwartungen meist daneben liegen. So hat jetzt eine Lebensversicherung, die meine Eltern 1949 für mich abschlossen und an die ich nie richtig gedacht habe, mir über die Flaute hinweggeholfen, die in unserer Branche gerade herrscht und die ich nicht vorausgewusst habe (niemand hat es vorausgewusst). Oder, eine meiner Lieblingsgeschichten: Als ich 35 Jahre alt war – so alt wie Dr. Zweig jetzt –, rechnete ich fest damit, dass ich mit sechzig ein künstliches Gebiss bräuchte. Meine Zähne waren immer mürbe und außerdem hatte ich Angst vor dem Zahnarzt und ging immer erst im letzten Augenblick hin.

Doch habe ich mit sechzig kein künstliches Gebiss. Seit dem vierzigsten Geburtstag fing ich an, regelmäßiger zum Zahnarzt zu gehen. Und dann machte die Zahnmedizin so außerordentliche Fortschritte, dass sie sogar Ruinen wieder aufzubauen vermag.

Aber auch das schafft keine Gewissheit. Durchaus denkbar, dass die elegante und leidenschaftliche Dr. Zweig mit sechzig Jahren keinen einzigen Zahn mehr im Mund hat, und wegen des andauernden Krieges mit der Ukraine – dem dann auch Russland beitrat – sank die medizinische Versorgung auf ein derart bedauernswertes Niveau, dass an ein künstliches Gebiss für Dr. Zweig gar nicht zu denken ist.

MICHAEL RUTSCHKY, Jahrgang 1943, schreibt in der taz monatlich ein „Schlagloch“; im taz.mag nimmt er regelmäßig Stellung zu den zwischenmenschlichen Dingen des Lebens. Jüngst erschien von ihm „Wie wir Amerikaner wurden“ (Ullstein, Berlin 2004, 272 Seiten, 20 Euro)