Ordnung ist nicht das Leben

Act local: Für sein Spielfilmdebüt „Bungalow“ wurde der Regisseur Ulrich Köhler mit dem Hessischen Filmpreis ausgezeichnet. Auch „Montag kommen die Fenster“, der jetzt in Kassel gedreht wurde, setzt auf verschlossene Figuren und wenig Dialog

Wird eine Szene am Stück gedreht, bedarf es einer ausgefeilten Choreografie

VON CRISTINA NORD

Annette Rosenbaum sitzt auf einer Bank im Flur, gleich neben der Tür, die zum Spielplatz führt. Auf dem Tisch vor ihr steht ein Tablett mit Kaffeetassen, Papiere liegen herum. Aus einem herrenlosen Walkie-Talkie dringt eine Stimme: „Gibt's noch von dem Ingwertee?“ Aber das hat nichts mit Frau Rosenbaum zu tun. „Sophia“, ruft sie einem Mädchen zu, „geh nicht raus ohne Jacke!“ Sophia macht auf dem Absatz kehrt und holt ihre Jacke, bevor sie nach draußen rennt.

Frau Rosenbaum leitet die Landaustraßen-Kindertagesstätte in Kassel. 115 Kinder werden hier in vier Kindergarten- und einer Hortgruppe betreut. Die Kunsthochschule und die Wiesen der Karlsaue sind gleich nebenan. Aber heute ist etwas anders als sonst. Die Eltern mussten Einverständniserklärungen unterschreiben. Vor der Kita steht ein Scheinwerfer. Im ersten Stock sind Kabel auf dem Boden des Flurs verklebt. Eine Kamera des Herstellers Arricam ist auf einen fahrbaren Untersatz montiert. Fast versperrt sie den schmalen Durchgang zwischen dem Treppenabsatz und dem Spielzimmer der Hortgruppe. Eines der Mädchen, Amber Bongard, ist eigens aus Berlin angereist, denn sie ist kein Hortkind, sondern spielt eines.

In der Landaustraßen-Kita dreht der Regisseur Ulrich Köhler seinen neuen Film „Montag kommen die Fenster“. Annette Rosenbaum hat ihr Büro geräumt und sitzt wie ein Gast am eigenen Tisch. Und weil die Proportionen einer Kindertagesstätte Kinder zum Maßstab nehmen, ist es eng für die Leute vom Film. Selbst die überschaubare Crew Ulrich Köhlers braucht Platz, der bigger than life ist, auch wenn es später auf der Leinwand nicht so aussieht.

Köhlers erster Spielfilm „Bungalow“ war ruhig und lakonisch. In Plansequenzen erschloss er die Verschlossenheit eines 20-Jährigen, der sich eine Auszeit von der Bundeswehr nahm. Der Film brauchte wenig Dialog, dafür entwickelte er einen genauen Blick auf die mittelhessische Dorfrandlandschaft, in der er spielte. „Ich habe weitgehend auf Erklärungen verzichtet“, sagt Köhler, der in Hessen aufwuchs, „ich habe mehr gesetzt als erklärt.“ Wahrscheinlich wird „Montag kommen die Fenster“ in dieser Hinsicht „Bungalow“ ähneln: „Ich hatte ursprünglich vor, einen Film zu machen, in dem mehr geredet wird als in ‚Bungalow‘; aber ich glaube, es nimmt sich nicht so viel.“

Nur jetzt, im Entstehungsstadium, im Obergeschoss der Kita, sieht es noch anders aus, und vor allem hört es sich anders an. Satzfetzen fliegen durch die Luft. 20 Kinder wimmeln durcheinander. Osmo will von der Regieassistentin wissen: „Annette, war das die letzte Runde?“ Leonhard lässt eine Playmobilfigur durch eine Legolandschaft wüten: „Es ist heiß, heiß, heiß, hat jemand Wasser?“ – „Kein Kind guckt in die Kamera“, fordert derweil die Assistentin. Und dass man unten auf der Straße die Absperrung aktivieren möge, damit nichts ins Visier der Kamera gerät, was dort nichts zu suchen hat.

„Montag kommen die Fenster“ erzählt von der jungen Ärztin Nina (Isabelle Menke). Wie der Protagonist von „Bungalow“ nimmt sie sich eine Auszeit. Vom Beruf, vom Mann, von der Tochter, vom neuen, noch nicht renovierten Haus, das in Wirklichkeit ein Abrisshaus im gutbürgerlichen Stadtteil Wilhelmshöhe ist. „Dr. med. H. Jacob“ steht noch auf einer Tafel, „Facharzt für innere Krankheiten“. Nina, sagt Isabelle Menke, sei „eine Frau, der in ihrem Leben alles zugefallen ist. Und plötzlich steht sie da und fragt sich: ‚Habe ich je direkt eine Entscheidung getroffen?‘ “ Sie geht, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, und verbringt einige Tage in einem Hotel im Harz.

1,1 Millionen Euro wird „Montag kommen die Fenster“ kosten. Da Köhler für „Bungalow“ den Hessischen Filmpreis erhielt, war es nicht allzu schwierig, die Finanzierung zu sichern, sagt Katrin Schlösser, die Produzentin. Das Kleine Fernsehspiel des ZDF tritt als Koproduzent auf; daneben steuern unter anderem die Filmförderung des Landes Hessen und das Medienboard Berlin-Brandenburg Geld bei. Außergewöhnlich ist der lange Drehzeitraum: 40 Drehtage waren Köhlers Wunsch, nun sind es 35. „Ich arbeite langsam“, sagt der Regisseur. Es ist ihm wichtig, drehfreie Tage zu haben, sodass er das bereits gedrehte Material sichten und bei Bedarf Szenen wiederholen kann.

Die Szenen, die in der Kindertagesstätte und am Abend in der ehemaligen Arztpraxis gedreht werden, ereignen sich in der Chronologie des Films dann, wenn die Hauptfigur Nina im Harz ist. Frieder, ihr Mann (Hans-Jochen Wagner), bringt die Tochter Charlotte (Amber Bongard) in die Kita. Als die Klappe zum ersten Mal fällt – „76 eins, die eins“ –, läuft Amber die Treppe hoch, hängt ihre Jacke auf, geht durch die Tür zum Spielzimmer und auf Ursula Renneke zu, die die Erzieherin Maria spielt. Wagner folgt dem Mädchen mit einigem Abstand, zögernd betritt er das Zimmer. „Geht's gut“, fragt ihn Ursula Renneke. „Naja“, antwortet er. „Mach dir keine Sorgen. Ich kann das schon einordnen“, sagt sie, während sie einen Bleistift im Anspitzer dreht. Amber schmiegt sich kurz an sie: „Gehen wir heute noch raus?“ – „Klar, wenn's nicht regnet.“ – „Ich kann's nicht einordnen“, sagt Wagner leise, bevor er den Raum verlässt. Auf das Verschwinden seiner Frau, erläutert Köhler, reagiere der Mann damit, „dass er sofort eine Affäre hat“. Mit der Erzieherin. Was in der Kita gedreht wird, das ist die Begegnung am Tag danach.

Die Einstellung ist so kompliziert wie die Gefühlslage der Figuren. Sie dauert lang, anderthalb, zwei Minuten. „Dadurch, dass man nicht viele Schnitte macht“, sagt Köhler, „hat man weniger Spielraum.“ Das heißt: Sobald eine Szene nicht in Einzeleinstellungen aufgelöst, sondern am Stück gedreht wird, bedarf es einer ausgefeilten Choreografie. Der Kameramann Patrick Orth und und die Arricam bleiben die ganze Zeit im Flur, vor dem Raum, in dem sich das eigentliche Geschehen zuträgt. Gefilmt wird durch den Türrahmen; bevor es so weit ist, folgt die Kamera zunächst mit einem Schwenk den Schritten Ambers und Wagners auf der Treppe.

Später, während einer Drehpause, spricht Wagner – der Schauspieler ist Absolvent der Ernst-Busch-Schule in Berlin und war im Kino unter anderem in der Rolle des gutmütigen Ingos in „Sie haben Knut“ zu sehen – über das Besondere solcher Plansequenzen: „Es wird ein Rahmen festgelegt, in dem man sich bewegen kann, man ist ein Teil des Bildes“; man muss „ganz genau wissen, was die anderen machen“. Das heißt: den Rest des Bildes berücksichtigen, die Komposition der Szene, die Bewegungen auch der anderen Darsteller verinnerlichen. Weil der Komposition eine so große Bedeutung zukomme, habe es „fast mehr mit Malerei als mit Film zu tun“. Und obwohl Wagner während der Szene meist mit dem Rücken zur Kamera steht, bleibt sein Gesicht in der Rolle, schaltet er den Ausdruck nicht „auf normal“ zurück. Denn sein Gegenüber, in diesem Fall also Ursula Renneke, wendet sich der Kamera zu, und in ihrem Gesicht spiegelt sich, was in seinem passiert.

Die Ehebruchszene – „postkoital“ nennt Wagner sie, weil man das Paar nicht während, sondern nach dem Sex zu sehen bekommt – ist zwar in der Filmchronologie vor der Szene in der Kindertagesstätte angesiedelt, wird aber erst am Abend gedreht. Weil es eine besondere Vertrautheit braucht, um die Szene zu bewältigen, will Köhler mit den Darstellern, dem Kameramann und dem Tontechniker allein sein. Bei der Stellprobe am Nachmittag dürfen die Journalisten noch zuschauen – und sich über das Bett wundern: eine wacklige Konstruktion, durch Bausteine erhöht. Das ist notwendig, damit das Bett den richtigen Winkel zur Kamera einnimmt. Der Raum ist voll gestellt mit Kartons, anstelle von Scheiben kleben Plastikplanen in den Fensterrahmen, Tapeten fehlen. Wagner und Renneke liegen halb unter einer Wolldecke; ihre Beine klemmen zwischen seinen, sein Kopf ruht auf ihrer Brust, und beide wissen nicht, wohin mit ihren Armen. „Irgendwie ist die Haltung sehr verkrampft“, klagt Wagner. „Okay“, sagt Ulrich Köhler, „dann tauscht noch einmal eure Positionen.“