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Archiv-Artikel

Der Angriff des Unsichtbaren

KRIMI Als Arthur Conan Doyle Sherlock Holmes schuf, begann der Niedergang des britischen Weltreichs – die „koloniale Infektion“. Gedanken zum 150. Geburtstag eines Imperialisten

Arthur Conan Doyle

■ Am 22. Mai 1859 wurde Arthur Ignatius Conan Doyle in Edinburgh geboren. „Conan“ ist ein sentimentales Zugeständnis an den Familiennamen seines Großonkels. ■ Arthur studierte Medizin und arbeitete neun Jahre als Arzt, später auch als Schiffsarzt. Die ersten Sherlock-Holmes-Abenteuer veröffentlichte er 1892 im Magazin The Strand, es sollten insgesamt rund sechzig folgen■ 1899 zog er für Krone und Vaterland in den Burenkrieg, wurde dafür geadelt und veröffentlichte danach ein Buch über seine Erlebnisse. Nach dem Tod seines Sohns Kingsley im Ersten Weltkrieg wandte sich Conan Doyle dem Spiritismus zu, veröffentlichte sogar ein Buch über „Geisterfotografie“ – mit Fotos von Spektren, die er selbst geschossen hatte. Er starb am 7. Juli 1930 in Sussex.

VON ANNE HAEMING

Er ist geschwächt. Seit Monaten ist er schon in diesem Zustand, wackelig, kränkelnd, ausgelaugt. Er war in Afghanistan stationiert. Der Krieg hat ihm zugesetzt, und dann fing er sich zu allem Überfluss auch noch Typhus ein. Jetzt ist er endlich nach London zurückgekehrt; immer noch nicht wieder der Alte, nur Haut und Knochen, aber dafür immerhin braungebrannt.

Eine Szene, die seltsam aktuell klingt. Aber der da beschrieben wird, ist kein heimkehrender Soldat unserer Zeit, sondern der Militärarzt John H. Watson. Mit dem kränkelnden Mann beginnt „Eine Studie in Scharlachrot“ von 1887, das allererste Sherlock-Holmes-Abenteuer. Und jener erste Auftritt von Doktor Watson gibt den Ton an für den Rest der Detektivgeschichten.

Denn was meist übersehen wird: Arthur Conan Doyle, der Erfinder des Pfeife rauchenden, opiumabhängigen, blitzgescheiten Sherlock Holmes und dessen Adjutanten Doktor Watson, war nicht nur Autor – er war auch Arzt. Und überzeugter Patriot. Und da diese Vaterlandsliebe in die Hochzeit der Kolonialkönigin Viktoria fiel, war Conan Doyle somit Imperialist, und zwar bis in die Knochen.

Die Holmes’schen Abenteuer sind um die Jahrhundertwende angesiedelt, in einer Zeit also, in der sich das Britische Reich in einem ähnlich katastrophalen Zustand befand wie Doktor Watson: Denn das Imperium unter Königin Viktoria schwächelte. Der zweite Burenkrieg von 1899 bis 1902 – in den übrigens auch Conan Doyle als Militärarzt zog – die Invasion Afghanistans und Tibets ließen die Nation verwundet und blutend zurück; und von der „Indian Mutiny“, die damals bereits vier Jahrzehnte zurücklag, hatte sie sich immer noch nicht erholt. Mit Watsons marodem Einstieg in den Holmes-Zyklus spiegelt Conan Doyle den beginnenden Niedergang jenes Weltreichs. Das imperiale Immunsystem war damals kraftlos, anfällig für jede nur denkbare Infektion.

Der Mediziner Arthur Conan Doyle wusste alles über Infektionen und ihre fatale Gefahr. Kein Wunder, war er doch ein großer Bewunderer des deutschen Mikrobiologen Robert Koch. So groß war seine Verehrung, dass der Brite einmal sogar nach Berlin reiste, nur um einige Tuberkulosepatienten zu untersuchen, die Koch behandelt hatte. Und so war nicht zuletzt Conan Doyle überzeugt von Robert Kochs Theorie, dass Krankheiten, Epidemien sich wegen mangelnder Sauberkeit übertragen. Keime waren der Feind.

Im kolonialen Denken jener Zeit fest verankert: Ideen von Rassenhygiene; biologistische Analogien zwischen dem menschlichen Körper und dem Volkskörper waren an der Tagesordnung. Der „cordon sanitaire“, eine seuchenfreie Sicherheitszone, galt somit infrastrukturelle Notwendigkeit in vielen Kolonialgebieten. Die metonymische Verschiebung von Schmutz zu Keimen zu Menschen als Träger dieser ansteckenden Krankheiten gehörte zur alltäglichen Rhetorik. Flugs fielen so Körperhygiene und Rassenhygiene in eins – die Gefahr, dass der Volkskörper von Fremdem kontaminiert werden könnte, war groß. Kein Wunder, dass man versuchte, alle fernzuhalten, die im Verdacht standen, das gesunde Imperium zu infizieren. Eine Idee, die sich übrigens nicht zuletzt in der Apartheid offenbarte.

Briten als Opfer

Konsequenterweise schuf Conan Doyle mit seinem Privatermittler einen Helden, der all die kranken, gefährlichen, ansteckenden Elemente aus London entfernte, dem Herzen des Imperiums. Die imperiale Angst vor einer Gegeninvasion war groß. So scheint etwa in „Das Zeichen der Vier“ einem Burschen von den Andamanen die Rolle des Schurken zuzufallen. Tonga, der am Tatort sein Unwesen trieb, wird beschrieben als „ein dunkelhäutiger, affengesichtiger Kerl“. Das Opfer: ein ehemaliger britischer Soldat, der in Indien diente und von dort einen geheimnisvollen Schatz mitbrachte.

„Betrachten Sie die Tatsachen“, fordert Holmes Watson am Ort des Geschehens auf. „ ‚Kleine Fußabdrücke, Zehen nie in Schuhe gezwängt, nackte Füße, eine hölzerne Keule mit Steingriff, große Beweglichkeit, kleine vergiftete Pfeile. Wie entwirren Sie das?‘ – ‚Ein Wilder!‘ “, ruft Watson aus. „ ‚Vielleicht einer dieser Inder?‘ “ Ein Kerl mit einem „Affengesicht“, ein Kleinwüchsiger, wie sich aus der Fußgröße ablesen lässt: Das folgt ganz dem kolonialen Herrschaftsvokabular, nach dem die „Eingeborenen“ unzivilisiert sind wie wilde Tiere, mit dem Verstand von Kindern. Conan Doyle verteilt Anspielungen auf die Kolonien und ihre wilden Eigenheiten großzügig über seine „Abenteuer“.

So spielt eine Episode etwa „im Januar 1903, direkt nach dem Ende des Burenkriegs“ wie in „Der erbleichte Soldat“; in „Seine letzte Verbeugung“ baut Conan Doyle gar Voodoo-Zauber ein, ein damals in unseren Breitengraden praktisch unbekanntes Ritual; des Weiteren stattet er die Settings mit allerlei orientalischen Requisiten aus, von marokkanischen Dosen bis hin zu asiatischen Truhen.

Das Einzige, das furchterregender ist als das Fremde, ist das Unsichtbare. Und die Mörder in Arthur Conan Doyles Geschichten sind so unsichtbar wie Bakterien

Und dann ist da natürlich das Mordwerkzeug: Immer wieder fallen Menschen vergifteten Pfeilen und Dornen zum Opfer, wie etwa in „Eine Studie in Scharlachrot“. Keine Tötungsart, die Westeuropäern gemeinhin geläufig ist. All das Fremde dient als Kulisse des Schreckens. Wie auch Tonga oder die „kohlenschwarze Negerin“, die in „Das Gelbe Gesicht“ erscheint, als verdächtig, abstoßend und böse inszeniert werden. Dabei bleibt es dann aber auch. Denn jene kolonialen Subjekte, die allein aufgrund ihrer Hautfarbe im Straßenbild des viktorianischen London auffallen würden, sie sind nie die Täter. Die Gefahr lauert anderswo. Das Einzige, das furchterregender ist als das fremde, unheimliche Andere, ist das Unsichtbare. Und sie sind verdammt unauffällig, die Mörder in Conan Doyles Geschichten, so unsichtbar wie Bakterien.

Die wahren Schurken sind die, die so vertraut und hygienisch rein sind, dass sie nicht sofort als Träger des Bösen entlarvt werden. Sie sind bereits „unter uns“, dank einer Camouflage aus Normalität: Das bereits angeschlagene Weltreich wird so von innen infiltriert und infiziert. Keiner sieht es kommen. Bis auf Holmes natürlich, der Details wahrnimmt, die alle anderen übersehen – sein Markenzeichen. Der Detektiv, das menschliche Mikroskop. Jene auf den ersten Blick unverdächtig erscheinende Gruppe besteht rundweg aus Charakteren, die in die Kolonien reisten, dort lebten und ins Vaterland zurückgekehrt sind. Sie wurden dort, in der Fremde, vom Bösen infiziert, so die Logik von Autor Conan Doyle.

So entpuppt sich in „Das Zeichen der Vier“ ein gewisser Jonathan Small als Mörder, der lange Zeit in Indien stationiert war. Oder Culverton Smith, der es in Sumatra zum Plantagenbesitzer gebracht hat und Experte ist auf dem Gebiet todbringender Bakterien: In „Das Abenteuer des sterbenden Detektivs“ gibt Holmes den sterbenden Detektiv, an einer vollkommen unbekannten „asiatischen Krankheit“ leidend, die er sich „im Herzen Londons“ eingefangen hat. Alles, um Smith als Mörder zu überführen.

Conan Doyles Figur des Sherlock Holmes fungiert damit nicht nur als Detektiv, sondern auch als treuer Imperialist, der alles Unnormale, all das Kranke, das aus den Kolonien ins Vaterland schwappt, zu identifizieren und eliminieren weiß. So sind jene „Abenteuer“ immer auch gesellschaftspolitische Stücke, die die Angst vor dem Fremdem schürten.

Jenes viktorianische Schreckensszenario vom Nationalkörper, dem die Invasion todbringender Elemente droht, erlebt seit einigen Jahren ein Revival. Die Angst vor Sporen des Bösen, die die Schutzmechanismen westlicher Länder überwinden, in sie eindringen und von innen zerstören, ist spätestens seit dem 11. September 2001 hochaktuell: der Angriff des Unsichtbaren. Symptomatisch dafür ist der Begriff „Schläferzelle“ oder die Furcht vor Anthrax – übrigens ein Erreger, den kein Geringerer als Robert Koch entdeckte.