: Hartz IV startet mit Hauereien
Zum Reformstart kommt es zu teilweise massiven Protesten vor Arbeitsagenturen. Im Wedding demonstrieren 400 Hartz-IV-Gegner, auch die Agentur in Kreuzberg wird besetzt. 17 Festnahmen
VON FELIX LEE, RICHARD ROTHER, SONJA FRANK UND ULRIKE LINZER
Der erste Tag der umstrittenen Arbeitsmarktreform begann gestern mit zahlreichen Protestaktionen. Hartz-IV-Gegner stürmten Arbeitsagenturen, besetzten Straßen und lieferten sich zum Teil handfeste Auseinandersetzungen mit der Polizei. Eine Agentur musste vorübergehend sogar geschlossen werden.
Die größte Protestaktion begann am Vormittag im Stadtteil Wedding. Mit Trommeln, Pfiffen und Parolen wie „Niedriglohn und Zwangsarbeit – dafür haben wir keine Zeit“ zogen rund 400 Demonstranten vom Leopoldplatz aus vor die Arbeitsagentur in der Müllerstraße. Ihre Aktion nannten sie „Agenturschluss“. Der Eingang des Amtes war jedoch mit Gittern versperrt, dahinter standen behelmte Polizisten mit bellenden Hunden. Als einige Demonstranten trotzdem versuchten, die Absperrungen zu überwinden, kam es zu Rangeleien mit den Beamten. Insgesamt 17 Demonstranten wurden dabei festgenommen. Proteste auch im Gebäude: Eine kleine Gruppe von Hartz-Gegnern versuchte, ein Transparent aus dem Fenster zu hängen. Zivilpolizisten hielten sie aber davon ab. Obwohl zeitweise auch Arbeitslose nicht mehr ins Gebäude hineinkamen, ging der Betrieb in der Agentur normal weiter. Einige Erwerbslose schauten sich das Spektakel vom Fenster des Treppenhauses an. „Ick kann schon verstehen, dass die so’n Brass haben, Alter“, sagte ein junger Deutscher zu seinem türkischen Freund. Andere zeigten Verständnis für die Polizei. „Die können einem richtig Leid tun, die Polizisten“, sagte eine junge Frau mit blondierten Haaren.
„Wir haben Sinn und Zweck erreicht und uns nicht in den Park hineindrängen lassen, sondern sind vor der Agentur in der Müllerstraße geblieben“, bilanzierte FU-Professor Peter Grottian. Noch schöner wäre es allerdings gewesen, in die Weddinger Agentur hineinzukommen und Gespräche zu führen, sagte Grottian, der die Aktion angemeldet hatte. Erst 90 Minuten später traute sich das Wachpersonal, das Amt wieder zu öffnen.
Zu Rangeleien kam es auch im Stadtteil Kreuzberg: Gegen Mittag stürmten rund 100 Demonstranten die Arbeitsagentur in der Charlottenstraße. Auch hier machte die Polizei kurzen Prozess. Unter Einsatz von Pfefferspray drängte sie die Demonstranten nach draußen. „Ich war mit meiner Mutter hier, um für sie einen Antrag abzuholen. Wir wurden auch besprüht, zusammengequetscht und nach draußen gedrängt“, erzählt eine junge Türkin.
„Es ist ein Unding, dass man als Bürger gehindert wird, seine Amtsgeschäfte zu erledigen“, ereiferte sich eine 50-jährige Frau. Wie viele andere hatte sie über eine Stunde in der Kälte stehen müssen, um ab 12.30 Uhr ins Gebäude zu kommen. Die Agenturleiterin Ramona Schröder musste die Öffnungszeit bis 14 Uhr verlängern, um „denjenigen, denen der Zugang versperrt war, Gelegenheit zu geben, ihre Dinge zu erledigen“.
Friedlich blieb es hingegen am späten Nachmittag im „Automobil Forum“ von Volkswagen Unter den Linden Ecke Friedrichstraße zu. Rund 40 Hartz-IV-Gegner besetzten für kurze Zeit die Hauptstadt-Dependance des Volkswagen-Konzerns, auf dessen Vorstandsmitglied Peter Hartz die verhassten Arbeitsmarktreformen zurückgehen. Noch bevor das Wachpersonal Verstärkung holen konnte, hatten die Demonstranten das gläserne Gebäude freiwillig wieder verlassen. Anschließend besetzten sie für zehn Minuten die Kreuzung und sorgten für Verkehrsstau.
Auch vor der Arbeitsagentur in Pankow kam es zu friedlichen Protesten. Etwa 50 Leute waren frühmorgens um 8 Uhr mit Kaffee, Sekt, Kuchen und Transparenten in der Storkower Straße aufgelaufen, um zusammen mit den Mitarbeitern der Agentur zu „frühstücken“. Angenommen hätten das Angebot aber nur wenige, berichtet Paul Meyer von der Freien ArbeitInnen Union Berlin. „Die Aktivisten haben alles selber aufgegessen.“