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Archiv-Artikel

Jenni Zylka über PEST & CHOLERA Irgendetwas mit Krieg

Für wahre Völkerverständigung brauche ich nur eine DVD mit Ländercode und meinen besten Freund

Weihnachten hat sich der beste Freund, dessen Leidenschaft für Osteuropa langsam Schwindel erregende Formen annimmt, einen gemeinsamen DVD-Abend gewünscht: Er hat in der Ukraine einen russischen Kriegsfilm auf DVD erstanden, den sein westlicher DVD-Player wegen des ukrainischen Ländercodes nicht abspielt. Mein DVD-Player dagegen spielt sogar in Asien schwarz gebrannte Blockbuster, weil irgendjemand Findiges sämtliche Verbotsschranken herausprogrammiert hat. Die russische DVD war darum auch kein Problem. Leider reicht das Russisch des besten Freundes trotz monatelangen Intensivkursen hier und dort immer noch nicht aus, um den militärischen Zungenschlag des Zweiten Weltkriegs zu verstehen. Der Titel, den der beste Freund mit „irgendetwas mit Krieg“ übersetzte, war ebenfalls keine große Hilfe. Wir saßen darum gestern ein klein wenig ratlos mit einer Flasche Wodka vor dem Fernseher und beschränkten uns darauf, die Bilder auf uns wirken zu lassen.

Es ging um eine Gruppe Soldaten, die an irgendeiner Front auf ihren Einsatz gegen die Deutschen warteten. Sie aßen „Kartoflis“ am Lagerfeuer, machten eine Menge Erkundungsflüge und flirteten mit zwei Pilotinnen, einer jungen und einer nicht mehr ganz so jungen. Der Held des Films war ein Hauptmann mit Locken, ein rechter Tausendsassa, der nicht nur den größten Schlag bei den Frauen hatte, am besten fliegen und am effektivsten befehlen konnte, sondern vor allem bei allen möglichen Gelegenheiten seine Truppe zum Musizieren anstiftete. Sobald mehr als drei aus der Gruppe zusammenkamen, packten sie ihre Instrumente aus, der Lockenkopf sprang in die Mitte und dirigierte schnell einen Kasatschok oder eine traurige Volksweise, in die die anderen in mindestens vier verschiedenen Kopfstimmen einstimmten, schön und schwül wie die Don Kosaken.

Am Ende fielen die meisten der Kameraden, nur der Lockenkopf und sein bester Freund, ein dunkeläugiger Schmaler mit Bartschatten, und der dicke (= lustige) Zeugwart überlebten und saßen, traurig summend, auf den Gräbern herum.

Nach Ansicht des Films überlegte ich, dass es sich wahrscheinlich um eine Art kommunistischen Bastard aus „Im Westen nichts Neues“ und „Alle lieben Peter“ handelte. Nein nein, winkte der beste Freund ab, das ist kein Antikriegsfilm. Da gehe es schon um Vaterlandsliebe, um die Guten gegen die Bösen, so viel habe er verstanden.

Wir beschlossen also, dem Film ausschließlich historische Punkte zu geben, vielleicht noch ein paar formale wegen der Musik und der rührenden Bilder, ihn inhaltlich aber komplett abzulehnen, wie wir auch jeden nationalistischen Propagandafilm ablehnen. Nationalstolz anderer Nationen nervt schließlich genauso wie deutscher. Stolz ist ohnehin eine fiese Angelegenheit. Gehört ja auch nicht umsonst zu den sieben Todsünden, jedenfalls nach katholischer Lesart. (Genau wie Geiz, der sich wieder ins gute Gewissen einschleichen konnte, nur weil eine dumme Nuss penetrant genug schreit, er sei „geil“.)

Doch laut Shell-Studie und Straßenerfahrung scheinen Nationalbewusstsein und ein gewisser Herkunftsstolz gruseligerweise ab einer bestimmten Generation keine Schande mehr zu sein.

Dabei könnte man die offenen EU-Grenzen jetzt so schön dazu nutzen, sämtliche deutschen SchülerInnen regelmäßig nach Polen zu schicken, wo man nur mal fünf Minuten herumspazieren muss, um die Grauen deutscher Vergangenheit gehörig um die hoffentlich beizeiten rot angelaufenen Ohren gehauen zu kriegen. Und billiger als eine Klassenfahrt nach London wäre es allemal.

Der wissbegierige beste Freund überlegt zurzeit, seinen nächsten Urlaub in Sibirien zu verbringen, und da mein Opa damals dort gestorben ist und ich ihn also nie kennen lernen konnte, wäre mein bester Freund der erste Mensch, den man fragen könnte, wie es dort überhaupt ist. Und gleichzeitig hätte man endlich einen echten Fall von Horizont- bzw. Osterweiterung.

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