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Archiv-Artikel

Verschwendung und Mitleid

Wenn die Außenwelt still wird und selbst die Trübnis sanft: Dann wird es bald Zeit, die Jahreseinstiegsphase jeden Abend zu verlängern. Wer keine guten Vorsätze mag, kann Freispiele über die Zukunft entscheiden lassen

Es war einfach, ins neue Jahr reinzukommen, jedoch unklar, wann es genau begonnen hatte. Wir standen auf einem Dach in Kreuzberg, niemand hatte eine Uhr, die genau ging, und gefeuerwerkt wurde schon an allen Ecken. Wenn dahinten im feuchten Nebelrauch das Brandenburger Tor war, dann müsste es jetzt schon Mitternacht gewesen sein.

Aber das war auch egal. Jeder bekam ein Glas mit Sekt, wir stießen an und nun war wohl Neujahr. Wir sprachen über Brot-statt-Böller, waren wie immer für die Böller, obgleich wir nicht einmal Wunderkerzen dabeihatten und uns das eben nur sehr gerne angucken. Wenn man sparen muss, um zu spenden, so kann man doch auch woanders sparen, zu Fuß zur Arbeit gehen, statt die U-Bahn zu benutzen; einen Monat lang die Heiztemperatur verringern etc. Also nicht bei der Verschwendung, sondern bei den Sachen sparen, die als notwendig gelten. Egal.

In der individuellen Wahrnehmung dauert der Jahreswechsel ohnehin eine Weile und beginnt schon nach Weihnachten, wenn man langsam von jenem in dieses Jahr gleitet und plötzlich denkt, die Außenwelt vor der Wohnung hätte sich verändert, es wäre stiller geworden und vielleicht auch ein bisschen dunkler und die Trübnis dort draußen fühle sich sanft an. Oft verwende ich die alte Jahreszahl noch versehentlich bis in den März hinein und jedes Mal denke ich an die Daten des neuen Jahres, die gut klingen – 03. 04. 05, 05. 05. 05 und 07. 06. 05 – ohne zu meinen, dass an diesen Tagen etwas Besonderes geschehen würde.

Freunde sagten stolz, sie wären Neujahr erst um zehn Uhr abends ins Bett gekommen. Man fühlte sich flau und war zu faul, vernünftig zu essen, und rauchte stattdessen lieber vor dem Fernseher. In den einen Programmen anheimelnde Jahreswechselfilme wie „Mary Poppins“, in den anderen immer die gleichen fünf, sechs Amateurvideos der Flut, die auf Spiegel-TV mit Mobys „Go!“ unterlegt waren. Die Leute spenden nicht nur, weil sie selber dort mal Urlaub gemacht haben oder Leute kennen, die dort leben, oder aus Mitleid, sondern vor allem auch, um diese quälenden Bilder nicht mehr zu sehen. Manche spenden, um sich ein gutes Gewissen zu machen, aber sich darüber aufzuregen, kommt einem dann doch etwas fundamentalistisch vor, so als könnten Spenden nur helfen, wenn der Spender über ein korrektes Gewissen verfüge.

Flau und verkatert gleitet man ins neue Jahr und verlängert die Jahreseinstiegsphase jeden Abend ein bisschen. Man ist zufrieden, zum ersten Mal seit Jahren zwei Neujahrskarten geschrieben zu haben und etwas entsetzt von der eigenen infantilen Handschrift, wenn man versucht, leserlich zu schreiben. Und man ist erleichtert, dass die thailändische Insel, auf der man einen so schönen Urlaub gemacht hatte, von der Flut verschont blieb. Vorsätze, deren Einhaltung man wie das Nichtrauchen oder die erfolgreiche Absolvenz eines Marathonlaufs kontrollieren könnte, mache ich mir nie und Erwartungen gibt es nicht.

Natürlich: man will unbedingt neugieriger, klüger, besser und ausgeglichener werden, aber es wird vermutlich keinen Punkt geben, wo man sagen könnte, nun wäre man völlig gescheitert. Nur beinahe hätte es diesen Punkt geben können, als wir am Flipper standen und uns sagten, wenn wir jetzt kein Freispiel holen, gibt’s zwei Wochen keinen Alkohol mehr. Dann holten wir doch das Freispiel.

Da das letzte Jahr nicht so gut war, wird dieses vermutlich besser werden. Man wird sich verlieben, irgendein Tag wird großartig gewesen sein, im Frühling wird man kurzzeitig begeistert sein, den Sommer erst spät genießen können, im Herbst über Friedhöfe schlendern, und danach wird wieder jetzt sein.

DETLEF KUHLBRODT