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Archiv-Artikel

Brüssel streicht

Die EU-Kommission hat etwas gegen die in Skandinavien übliche Bibliotheksabgabe. Kommt es zum Verfahren?

Die EU-Kommission ist dabei, ein Verfahren gegen die Regierungen in Kopenhagen, Stockholm und Helsinki einzuleiten. Die skandinavischen Länder haben ein System von Bibliotheksabgaben, das nach Auffassung Brüssels ausländische SchriftstellerInnen diskriminiert. Was es zweifelsohne auch tut. Für jedes in einer öffentlichen Bibliothek ausgeliehene Buch geht ein fester Betrag – in Schweden beispielsweise 1,20 Kronen (14 Cent), für Übersetzungen die Hälfte, in Dänemark hängt die Berechnung von der Seitenzahl ab – an den Schriftstellerverband des jeweiligen Landes. Der verteilt diese Gelder dann wiederum nach einem bestimmten Schlüssel an seine MitgliederInnen: SchriftstellerInnen und ÜbersetzerInnen. Das sind pro Land immerhin jährlich 12 bis 17 Millionen Euro. Doch davon profitieren in Schweden nur SchwedInnen, in Dänemark nur DänInnen. Ausländische VerfasserInnen bekommen nichts. Obwohl natürlich auch deren Bücher in den Regalen stehen und eifrig ausgeliehen werden. In den nordischen Ländern mit Bibliotheksabgabe sind dies jeweils etwa ein Drittel aller Ausleihen.

Dieses Drittel Bibliotheksabgabe soll nach dem Willen der EU-Kommission ausländischen SchriftstellerInnen zukommen. Der Haken: Weil es ähnliche Abgaben außerhalb Skandinaviens gar nicht (Frankreich, Italien, Spanien, Portugal) oder in anderer Form (Deutschland, Österreich, Niederlande) gibt, wäre dies mehr oder weniger eine Einbahnstraße. Könnten es ein Henning Mankell und die Erben von Astrid Lindgren sicherlich verschmerzen, nicht an Ausleihen in resteuropäischen Bibliotheken beteiligt zu werden und trotzdem auf ein Drittel des Bibliotheksabgabenkuchens verzichten zu müssen: Für manche schwedische Übersetzerin und manchen dänischen Schriftsteller ginge schlagartig der Teil des Einkommens verloren, der ihnen vielleicht hilft, sich mit ihrer Arbeit gerade so über Wasser zu halten.

In den skandinavischen Kultusministerien ist man sich einig: Das wäre zutiefst ungerecht. Seit über fünf Jahrzehnten besteht dieses System, Dänemark war 1946 der Vorreiter. Die Abgabe sei ein Teil der Kulturförderung, mit der diejenigen unterstützt werden sollen, die in den kleinen skandinavischen Sprachen schreibend oder in diese übersetzen. Die EU dagegen ordnet die Bibliotheksabgabe unter der Rubrik Urheberrecht ein und kann hier keinen Raum für sprachliche Differenzierung finden. Brüssel trifft sich dabei teilweise aber auch mit einheimischen Kritikern der jetzigen Praxis; sie fordern einen Abschied vom kulturpolitischen Gnadenbrot und eine Hinwendung zu einer Bibliotheksabgabe, die sich auf das Copyright und die konkreten Ausleihzahlen stützt (so auch das deutsche System). Nimmt man die tatsächlichen Ausleihen als Maßstab, werden nach den bisherigen Verteilschlüsseln nämlich Lyrik und Erwachsenenliteratur bevorzugt, Kinder- und Fachliteratur benachteiligt. Mit dem Urheberrecht dagegen als Ausgangspunkt würde sich solcherart kulturpolitisch begründete Zwangssolidarität verbieten.

Ein weiteres Argument gegen den Diskriminierungsvorwurf der Kommission: Sollte wirklich internationale Gerechtigkeit herrschen, müssten alle Länder ähnliche nationale Systeme haben. Das würde eine EU-Direktive zur flächendeckenden Einführung einer einheitlichen Bibliotheksabgabe voraussetzen. Oder soll man doch lieber für ein Stopp jeglicher Einmischung Brüssels in nationale Kulturpolitik sein? REINHARD WOLFF