: Urteil in HIV-Prozess
In Frankreich wird ein junger Mann wegen ungeschütztem Sex erstmals zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt
PARIS taz ■ Wegen „Verabreichung einer schädlichen Substanz“ ist ein junger Mann in Frankreich am Dienstag zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden. Christophe Murat weiß seit dem Jahr 1998, dass er HIV-positiv ist. Doch seine zahlreichen Partnerinnen hat er nicht darüber informiert. Geschützten Sex lehnte er ab. Zwei junge Frauen, mit denen er liiert war, waren anschließend selbst HIV-positiv.
Aurore hatte Murat im Jahr 1999 kennen gelernt. Der geschiedene Busfahrer versicherte der damals 19-Jährigen, er sei „clean“. Ende vergangenen Jahres raste sie mit einem Pkw gegen einen Baum. Sie trug keinen Gurt und versuchte nicht, zu bremsen. Die Polizei schloss auf Selbstmord. Die heute 29-jährige Isabelle war Murat fast gleichzeitig mit Aurore begegnet. Ihr gegenüber versicherte der Mann, er sei „allergisch gegen Latex“. Sie ist heute ebenfalls HIV-positiv. Auch gegenüber späteren Frauenbekanntschaften hielt Murat an seiner Geheimhaltung fest. So erfuhr Murats damalige Freundin erst durch dessen Verhaftung von seiner Seropositivität.
Die Anwälte der beiden HIV-infizierten jungen Frauen, die vor Gericht als Nebenklägerinnen auftraten, warfen Murat vor, er habe einen „Willen zur Ansteckung“ und er benutze seine „Krankheit als Waffe“. Dieser Einschätzung folgte auch der Staatsanwalt: „Wir können nicht ausschließen, dass er die Frauen absichtlich angesteckt hat.“
Verteidiger Christophe Bass setzte vor Gericht auf das seit Jahren geltende Dogma der „gemeinsamen Verantwortung“ von SexualpartnerInnen. Murat, so der Anwalt, habe die Frauen nicht absichtlich angesteckt. Zudem sei nicht erwiesen, ob ihre HIV-Infektion von ihm stamme.
Vor dem Prozess von Kolmar waren mehrere andere Verfahren wegen „Vergiftung“ mit dem HI-Virus eingestellt worden. Erst der Rückgriff auf den Tatbestand der „Verabreichung einer schädlichen Substanz“ machte den Prozess möglich. Das harte Urteil, gegen das Murat Einspruch einlegen will, sorgt für Kontroversen. Der Präsident der Selbsthilfeorganisation „Aides“, Christophe Saout, befürchtet, dass es kontraproduktiv wirken könnte. „Es schadet dem Vorbeugeprinzip, wenn derjenige, der weiß, dass er positiv ist, verfolgt werden kann, und derjenige, der es nicht weiß, straffrei ausgeht“, sagt er. Die Präsidentin der Marseiller Frauengruppe „Femmes positives“, Barbara Wagner, hingegen begrüßt das Urteil: „Vielleicht werden dadurch andere Frauen verschont“, sagt sie.
DOROTHEA HAHN