crime scene: Nordisch by nature
Nathan Active ist nicht wirklich am Polarkreis zu Hause. Obwohl der State Trooper schon vor einiger Zeit in seinen Geburtsort Chukchi im Norden Alaskas zurückgekehrt ist, gilt er immer noch als „Naluaqmiiyaaq“ – als ein Eskimo, der sich wie ein Weißer benimmt. Die Lektion in Sachen Schneemobil zum Beispiel stand noch aus. „Warum gerade das Damenmodell?“, fragt ihn sein Kollege John Silver, während er mit einem belustigten Lächeln die beheizten Griffe und den gepolsterten Sattel der Yamaha begutachtet und dann vorsichtig mit seinen behandschuhten Fingern über den farbenfrohen Lack streicht: „Normalerweise müssen die Händler die Violetten im Preis runtersetzten, damit sie sie loswerden.“
„Schamanenpass“ ist bereits Stan Jones’ dritter Nathan-Active-Krimi. Wer die beiden Vorgänger „Weißer Himmel, schwarzes Eis“ und „Gefrorene Sonne“ verpasst hat, ist jetzt in der glücklichen Lage, den lächerlichen deutschen Winter mit seinen verhaltenen Plusgraden gleich über mehreren großartigen Büchern vergessen zu können: In Alaska sind Eisregen und Schneesturm garantiert. Man begreift allerdings auch schnell, warum Active seinen Job zunächst am liebsten geschmissen hätte bzw. warum die Selbstmordrate dort oben ziemlich hoch ist.
Während sich Stan Jones in seinen ersten beiden Romanen vor allem den deprimierenden Lebensbedingungen in den ärmlichen Siedlungen Alaskas gewidmet hatte, unternimmt er in „Schamanenpass“ jetzt eine Zeitreise. Einer der Bewohner Chukchis wird mit einer alten Elfenbeinharpune in der Brust ermordet aufgefunden. Die Ermittlungen führen Nathan Active, der immer noch auf Suche nach seiner eigenen Identität ist, zurück ins 19. Jahrhundert – als die Weißen nach Alaska kamen und die letzten Schamanen der Inuit mit zum Teil fragwürdigen Mitteln ihre schwindende Macht verteidigten.
Stan Jones ist niemand, der die Vergangenheit idealisiert – ähnlich wie Arnaldur Indridason, dessen Romane in Island angesiedelt sind, also auch nur ein paar Kilometer südlich vom Polarkreis. Indridason hat immer wieder kritische Blicke in die jüngere Geschichte seines Heimatlandes geworfen, und auch in „Engelsstimme“, seinem neuesten Band, zeichnet er das Bild einer Gesellschaft, die den Übergang vom abgeschiedenen Inseldasein zum Elfenparadies für Pauschaltouristen nicht unbeschadet überstanden hat. Hinter dem Mord an einem homosexuellen Hotelportier verbergen sich eindrucksvolle Ressentiments und seelische Abgründe, aber Indridason liefert mit seinem melancholischen Kommissar Erlandur dann leider nichts anderes, als zuletzt aus Skandinavien kam: Durchschnittsware.
Bleibt noch, auf einen deutschen „nordic crime writer“ hinzuweisen. Robert Clausen hat sich immerhin bis zum 55 Breitengrad vorgewagt: Sein Debüt „Als die Zeit im Sterben lag“ beginnt in Westerland auf Sylt, im Milieu der sehr Reichen. Philipp Freyberg, der Erbe einer Hamburger Zigarettendynastie, trifft seinen alten Freund Lenz wieder, der ebenfalls aus einer wohlhabenden Familie stammt und in Schwierigkeiten steckt. Er hat sich in eine russische Prostituierte verliebt und wird nun vom Hamburger Rotlicht-Milieu erpresst. Nach und nach verwandelt sich diese zunächst aufgesetzt wirkende Geschichte in eine leise Tragödie um zwei Freunde, die immer nur Sohn waren und vom Leben nie mehr als ein großzügiges Erbe erwartet haben. Mit jedem Glas eisgekühltem Sancerre, das sie in ihren traumhaften Strandvillen in sich hineinschütten, wächst das Gefühl der Leere und der Einsamkeit, und plötzlich ist selbst die Nordsee ein Meer aus Eis. KOLJA MENSING
Robert Clausen: „Als die Zeit im Sterben lag“. Fischer TB, Frankfurt 2004, 238 S., 6,90 Euro Arnaldur Indridason: „Engelsstimme“. Aus dem Isländischen von Coletta Bürling. Edition Lübbe, Bergisch Gladbach 2004, 379 S., 18 EuroStan Jones: „Schamanenpass“. Aus dem Amerikanischen von Peter Friedrich. Unionsverlag, Zürich 2004, 284 S., 19,90 Euro
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