Die Entdeckung des Dreiecks

Bremen und Oswald M. Ungers sind ein ungleiches Paar, das nichtsdestotrotz zehn gemeinsame Kinder hat. Drei von ihnen haben schon steinerne Karriere gemacht, ein viertes kommt gerade auf die Welt – dank Ungers experimenteller Geometrie

von Henning Bleyl

Was haben Bauwerke und Schokolade gemeinsam? Beide können quadratisch, praktisch und gut sein. Insbesondere Oswald Mathias Ungers scheint der Architektenscherz zu treffen: Der 78-Jährige liebt die Klarheit geometrischer Formen derart, dass er den Ausbau seines beeindruckenden Oeuvres fast ausschließlich mit Quader- und Kreiselementen betreibt. Was ihn freilich nicht zum Rittersport-, sondern zum international renommiertesten der derzeit lebenden deutschen Architekten macht.

Jetzt aber hat Ungers das Quadrat diagonal zerschnitten. Der Schauplatz seiner ersten originären Dreiecksarchitektur ist Bremen. Das ist kein Zufall: Nirgends sonst im Norden hat Ungers soviel gebaut.

Das Formen-Menüdes Architekten

Das bisherige Bremer Formen-Menue: Halbzylinder in Kubusbett (Institut für Betriebstechnik und Angewandte Arbeitswissenschaft, 1991), Kreissegmentring an Kreissegment (Zentrum für Informatik und Medientechnologie, 2001) und wiederum Halbzylinder an zweierlei Kubus von Backstein – zusammen gesetzt ergibt das ein Schiff beziehungsweise den Sitz des Bremerhavener Polarforschungsinstituts. Dazu kommen noch sechs Entwürfe und Projektskizzen.

Dabei gilt: Bremen ist beileibe kein Architektur-Mekka, die lokale Präsenz des Meisters also geradezu eine Ausnahme von der Regel. Umso bemerkenswerter, dass es aus umgekehrter Perspektive – Ungers rund 100 Bauten umfassendes Werkverzeichnis – immerhin für Platz drei hinter Köln und Berlin reicht. Ein wichtiges Renommierprojekt steht, als deutsche Botschaft, auch in Washington. Was aber begründet das auffällig fruchtbare Verhältnis zwischen Bremen und Ungers?

Alles eine Frage deserregenden Schnitts

Vor Ort wird gerne die heimische Mentalitätsmischung aus Zurückhaltung und Soliditätsbedürfnis genannt – als Entsprechung zum Ungers’schen Streben nach „zeitlos“ gültigen Formen. Im ebenso hanseatischen Hamburg hat sich Ungers trotzdem auf ein Werk beschränkt: die bis ins Detail durchquadrierte Galerie der Gegenwart, genannt „Kunstbunker“.

Ausschlaggebend dürften also persönliche Beziehungen sein – und jetzt die Verlockung des Dreiecks. Der extreme Schnitt des Grundstücks hat Ungers derart interessiert, dass er sogar die Arbeit am bundesrepublikanischen Allerheiligsten unterbrach, die Neugestaltung der Berliner Museumsinsel.

Das Gelände, das Ungers auf seine alten Tage zum kurzentschlossenen Experiment verleitete, entsteht durch den Zusammenprall von ehemaligem Wallgraben mit einer viel befahrenen Verbindungsstraße. Die dritte Grenze wird durch eine skurrile Melange aus Amtsgebäuden der Senatoren für Bau, Verkehr, Umwelt, Jugend, Soziales und einigen Sexshops markiert – die nun freilich der allgemeinen Sicht entzogen sind. Mit sieben Stockwerken plus rück versetztem Staffelgeschoss ragt der neue Block relativ wuchtig in die Umgebung, wobei die scharfen Spitzen eine nicht eben Ungers-like Expressivität ausstrahlen. Raumhohe Fenster zerschneiden die Außenhaut aus Rosenkalk zu sechzig Zentimeter starken Bändern.

Solche Fassaden haben Ungers vor dreißig Jahren den Vorwurf „faschistischer Tendenzen“ eingebracht. Gemeint war die Bezugnahme auf den italienischen Rationalismus – der er auch anderen Stars wie Aldo Rossi angekreidet wurde – im Verbund mit Ungers Vorliebe für hohe Säulenhallen und einer gewissen Monumentalität. Im heutigen Bremen aber ist davon keine Rede. Höchstens wird das Werk als überdimensioniertes Stück Käse bespöttelt.

Eine hundsgemeine Angelegenheit

Dessen Belüftung und Belichtung ist nicht ohne. Denn: Das vorgegebene Dreieck ist auch noch unregelmäßig – „eine hundsgemeine Angelegenheit“, wie Ungers nach ersten Vorstudien befand. Innenhöfe lassen sich in einer derart gestreckten Fläche kaum realisieren, was also anfangen mit den einwärts gelegenen Räumen?

Ungers Lösung: Er schneidet, ab Stockwerk drei, aus dem großen Dreieck ein kleineres hinaus, so dass die Obergeschosse einen letztlich L-förmigen Baukörper bilden. Ein geometrisch gebildeter Vogel könnte das Ganze als zwei aneinander gefügte, nahezu gleichschenklige Trapeze wahrnehmen. Auftraggeber des Ungers‘schen Feldversuchs ist ein vor Ort nicht unumstrittenes Geschäftstalent. Aufgestiegen vom Alleinunterhalter zum Großunternehmer, unter anderem in der Ticket-Branche, hatte er für seinen künftigen Firmensitz zunächst ein Modell von Bothe, Richter & Teherani präsentiert. Das jedoch erwies sich bald als Selbstzitat der gefragten Hamburger, zumindest hätte man den Bau nur allzu leicht mit dem mittlerweile bundesweit bekannten Bürohaus am Hamburger Deichtor verwechseln können. Statt des doppelten Teherani bekam Bremen daraufhin den vierten Ungers, dieser sein erstes Dreieck und die Architekturwelt Anschauungsmaterial zur Frage: Können Dreiecke lecker sein? Zumindest sind sie wider Erwarten praktisch.