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Archiv-Artikel

„Auswüchse gibt es überall“

CALVINISMUS Calvinistische Ethik hat den modernen Kapitalismus ermöglicht. Ist dessen Krise auch die ihre? Jann Schmidt, Oberhaupt der evangelisch-reformierten Kirche, hält das für abwegig

Jann Schmidt

■ 1948 in Weener/Ostfriesland geboren, Theologiestudium in Wuppertal, Bochum, Göttingen. Der einstige Landesjugendpfarrer bekleidet seit Mai 2004 das neue Amt des Präsidenten der evangelisch-reformierten Kirche. Es ist intern wegen seiner Nähe zum Bischofsposten umstritten: Laut calvinistischer Kirchenverfassung darf „kein Gemeindeglied über ein anderes Vorrang beanspruchen“ – Leitungsvollmacht haben nur gewählte Gremien. Die EKD-Gliedkirche umfasst 142 Gemeinden in ganz Deutschland und hat 185.000 Mitglieder. Sitz des Kirchenamts ist Leer. BES Foto: reformiert.de

INTERVIEW BENNO SCHIRRMEISTER

taz: Herr Schmidt, warum laden die Reformierten erstmals mit zum Kirchentag ein?

Jann Schmidt: Die Bremer haben alle Nachbarkirchen gebeten, mit einzuladen. Zugleich wird es nie wieder passieren, dass ein Kirchentag so nah an die Zentren der reformierten Gemeinden herankommt wie in diesem Jahr …

das mit den Zentren ist bei Ihnen aber knifflig: Sie sind ja die evangelisch-reformierte Kirche „Bayerns und Nordwestdeutschlands“…

… aber nur im Klammerzusatz: Der eigentliche Name ist einfach nur evangelisch-reformierte Kirche. Wir sind die einzige Landeskirche ohne territoriale Zuordnung. Früher hieß sie mal „Nordwestdeutschlands“ – aber das war auch schon schräg, schließlich gehörte damals Stuttgart bereits dazu. Trotzdem gibt es klar erkennbare Zentren, Ostfriesland etwa, oder die Grafschaft Bentheim. Und auch direkt bei und sogar im Land Bremen haben wir Gemeinden: Deshalb sind wir der Bremer Einladung gerne gefolgt – und haben gesagt: Wir sind dabei.

Noch dazu im Jubeljahr zu Jean Calvins 500. Geburtstag …?

Der Kirchentag ist für uns eine gute Gelegenheit, um auf den Genfer Reformator hinzuweisen: Im reformierten Zentrum am Europahafen widmen wir uns – aber nicht ausschließlich – Jean Calvins Leben und Theologie.

In der spielt die Wirtschaftsethik eine Hauptrolle.

Die Wirtschaftsethik ist eine für Calvin zentrale Frage. Von ihm aufgeworfen worden ist die Frage nach Werten – und nach Maßstäben. Diese Themen werden zu diskutieren sein, wo von Globalisierung die Rede ist. Ich bin sicher, dass reformierte Christen da viel einbringen können – genau wie zu der Frage nach den Einflüssen des Calvinismus auf die Entwicklung der Gesellschaften oder des Staates.

Der anerkanntermaßen groß war: Bedeutet die Krise des modernen Kapitalismus nicht auch eine Krise calvinistischer Ethik, die ihn ermöglicht hat?

Überhaupt nicht. Ich denke im Gegenteil, dass der Kapitalismus seine Grenzen und Werte vernachlässigt hat: Es ist doch irrwitzig, dass Schulden im Finanzsystem zu einem handelbaren Wert wurden. So etwas können Sie nicht auf Calvin zurückführen!

Sondern?

Was Calvin in seiner „Institutio“ beschrieben hat, das ist das Maßhalten, die Verantwortung fürs Ganze, also nicht nur für eine Kirchengemeinde, sondern auch für Gesellschaft und Staat. Auswüchse gibt es in jedem System und jeder Ideologie …

Auch bei den Reformierten: Im vergangenen Jahr gab es zwei Finanzskandale, etwa in Bayern, wo der Finanzchef fast 10 Millionen Euro veruntreut haben soll. Hat die Kirche eine so integre Position, zu sagen, wo es langgeht?

Nein, diese Position hat auch die reformierte Kirche nicht. Aber sie kann Anwalt der Schwachen sein. Das steht ihr zu. Sie kann die Seiten miteinander ins Gespräch bringen. Als gesellschaftliche Größe muss Kirche sich einmischen. Und von ihren Grundwerten her kann sie das auch: Sie kann darauf hinweisen, wo die Grenzen der Freiheit liegen. Dass Leute die Freiheit für sich proklamiert haben, ohne Rücksicht auf die Freiheit der anderen – das hat zu dieser Finanzkrise geführt.

Die der reformierten Kirche in Bayern?

Nein, da meinte ich die globale Krise. In Bayern – dahinter steckt kriminelle Energie oder Unwissenheit oder Hochmut.

Noch ratloser macht die Krise der Lasco-Bibliothek in Emden, der wohl wichtigsten wissenschaftlichen Sammlung zur Geschichte der Reformierten, die seither geschlossen ist …

Das ist ein völlig anderer Vorgang. Da wurde Stiftungskapital für Anschaffungen verwendet. Und das muss ja erhalten bleiben, Zinsen abwerfen und den laufenden Betrieb finanzieren.

Anfangs wurde auch hier der Verdacht privater Bereicherung geäußert – in den Akten der Staatsanwaltschaft …

… nein. Überhaupt nicht. Das steht weder in einem Aktenvermerk der Staatsanwaltschaft, noch hat das jemand von uns behauptet.

„Es ist irrwitzig, wenn Schulden zum handelbaren Wert werden. Das hat mit Calvin nichts zu tun“

Die Strafanzeige ging aber vom Kirchenamt aus…?

Wegen Untreue: Die Staatsanwaltschaft hat wegen Untreue ermittelt. Persönliche Bereicherung war nie ein Verdacht.

Wie gehen Sie mit diesen akuten Fällen um?

Es sind schwebende Verfahren – und wir sind nicht mehr die handelnden Akteure. Wir warten ab, was die staatlichen Gerichte daraus machen. Danach haben wir das zu bewerten. Aber nicht eher.

Also keinesfalls vor dem Kirchentag. An dem die Reformierten stark wie nie beteiligt sind?

Beteiligt waren wir immer – wenn auch nicht so massiert wie in diesem Jahr. Allein am Abend der Begegnung sind 60 von unseren 142 Gemeinden mit einem Stand beteiligt und werden kulinarische Köstlichkeiten aus der jeweiligen Region anbieten. Unsere Kirchenmusik ist beteiligt, unsere Bläserarbeit, unsere Jugendarbeit … Doch, im Blick auf die geringe Größe sind wir schon sehr stark vertreten.

Wird dieser Aufwand da nicht zur Belastung?

Das ist eine Herausforderung, sicher auch eine Belastung für die Gemeinden, die aber im Umkehrschluss enorme Impulse für deren übrige Arbeit bedeutet. Ich sehe das deshalb eher als eine Chance: Die Vorbereitungen haben zu einer Aufbruchstimmung geführt. „Auf nach Bremen!“ ist die Devise.