ausgehen und rumstehen
: Ausflug nach Schöneberg: Eine Erzählung von großer Lust, eine andere von täglicher Geilheit

Freitag: Habt ihr’s gesehen? Deutschland sah heute aus wie ein geschminktes Monster. Die ausgebuchtete Grenze zu Tschechien war rot gerändert wie eine wulstige Lippe. Und etwa zwischen Hannover und Schwerin war im gleichen Rot ein Auge hingemalt. Als wollte der deformierte deutsche Packman sich Richtung Osten fressen.

Nach dem Wetterbericht gab es ein Special über AC/DC. Auch hier ging es um Lippen. Der Plattentitel „Stiff upper Lip“, so erfuhr man, spiele nicht nur auf das alte Gentle-Man-Ideal („Haltung bewahren!“) an, sondern auch auf die typisch rockistische Lippenstellung bei Erzrampensäuen wie Billy Idol oder Elvis. Angus Young sagte, auch er hätte instinktiv bereits diese Mimik angewandt, und mutmaßte, sie hätte wahrscheinlich irgendwas zu bedeuten. Ich mutmaße auch mal: Die Rocklippe bedeutet: „Ich habe Erotik … unter Kontrolle“ – eine Erzählung von großer Lust und ihrer Bändigung.

Ich könnte das morgen sicherlich gut studieren bei der Elvis-Geburtstagsparty in Kreuzberg. Mindestens „Boy from Brazil“ wäre ein dankbares Forschungsobjekt. Aber ich darf nicht hin. Frau Messmer, die Verwalterin dieser Kolumne, hat es mir verboten, denn „darüber ist eh extra was drin“.

Ist das überhaupt richtig, dass ich mir von einer Tageszeitung in mein wildes freies Leben reinredigieren lasse? Interessente Frage. Für morgen notieren!

Samstag: Mein Beruf führt mich nach Schöneberg. Ich muss einen neuen Musiker akquirieren. Nach geglückten Verhandlungen sehen wir einen Film über ein Mädchen, das, weil sie ihre Tage bekommt, zum Werwolf wird.

Dann lasse ich mir den Kiez zeigen. Erste Station ist das „Gnadenbrot“, angeblich eine Art schwules „White Trash“. Tatsächlich unterscheidet sich das Lokal kaum von einer bürgerlichen Eckkneipe, außer dass der Kellner so ist wie Dirk Bach. Ich mag Dirk Bach, seit er bei Domian zu Gast war und in der Diskussion mit ihm das Folterverbot verteidigt hat. Folglich mag ich auch den Kellner. Bei einer perfekt gezapften Weinschorle lasse ich mir die Geschichte des Ladens erklären und dass die Band Mutter hier kürzlich ihr Jubiläumskonzert gegeben hätten. „Meinst du die Band Mutter um den Sänger Max Müller, die damals die Hamburger Schule mitgründete und bald beim Kultlabel Zickzack ihre neu Platte rausbringt (Preis 15.99)?“ So ist es. Jetzt aber weiter, es gibt noch viel zu sehen, nämlich das „Kumpelnest“.

Was habe ich nicht schon alles gehört über diesen Laden aus den Mündern der Alten, die Berlin schon im Kalten Krieg kannten. Meine Begleitung sagt, hier sei früher auch das Hauptquartier von Max Müller gewesen, dem Sänger von Mutter. Die Credibility des ganzen Stadtteils scheint auf den schmalen Schultern diese wackeren Mannes zu lasten.

Das Interieur ist auf angenehme Art campy. Schönstes Detail ist ein Wandteppich, auf dem ein Kind und ein Löwe in einem Wohnzimmer sitzen. Das Kind will dem Löwen was in einem Bilderbuch zeigen, aber der Löwe sieht gar nicht hin sondern in die Ferne – ins Kumpelnest. Dort ist schon ordentlich prolliges Gebagger los, wie man es auch aus dem Café Burger zu vorgerückter Stunde kennt.

Reihenweise bilden sich sexuelle Zweckgemeinschaften, es ist ein beeindruckendes Schauspiel, fast wie die Liebestänze und Massenvereinigungen der Calamare, nur dass die danach Erlösung im Tod finden und nicht, wie in einem bösen Alptraum, alles wieder und wieder durchexerzieren müssen. Für diese armen Menschen aber heißt es: Täglich grüßt das Murmeltier der eigenen Geilheit.

Irgendwann sind die Frauen alle, was dazu führt, das die überschüssigen Männer versuchen, sich durch Kraftsport und Armdrücken zu erschöpfen. Für uns wirft das die Frage auf: Was machen mit dem angebrochenen Abend? Antwort: Abbrechen. Es ist ja auch schon spät. JENS FRIEBE