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Archiv-Artikel

Mach mir den Adorno

Die Frankfuter Schule lebt – wenn man in Lüneburg Kulturwissenschaften studiert. Ein Leidensbericht aus dem Inneren eines Systems, aus dem die Negation verschwunden ist

aus Lüneburg Maren Albertsen

„Big Brother“, Sendungen über Schönheitsoperationen, Talk-Shows: Adorno ist tot. Nur nicht für Leute wie mich, die in Lüneburg Angewandte Kulturwissenschaften studieren.

Im Gymnasium hatte ich anstelle von Philosophie aus sehr weltlichen Gründen (Aussicht auf bessere Noten) Religion gewählt. Von Adorno hatte ich nie etwas gehört, genauso wenig wie von Horkheimer. „Kulturindustrie“ war mir kein Begriff, die riesige Auswahl an Medienangeboten brachte mich nicht um den Schlaf. Ist doch schön, wenn jeder selbst entscheiden kann, was er lesen, hören, ein- oder ausschalten möchte, dachte ich.

Falsch gedacht. Im zweiten Semester wurde ich aufgeklärt: Voller Ehrfurcht blätterten wir Adornos und Horkheimers Aufsatz „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ durch. Wir lernten, dass wir nicht selber entscheiden können. Schlimmer noch: Dass wir es auch gar nicht wollen. Dass wir keine mündigen Konsumenten sind, die selbstbestimmt auswählen. Dass wir uns stattdessen von der bösen Kulturindustrie in Zielgruppen einteilen lassen, um total erfasst werden zu können. Dass Vielfalt in Wirklichkeit ähnlich und schematisiert ist. Dass „Vergnügtsein“ „Einverstandensein“ heißt. Und dass wir zu dumm sind, um es zu merken.

Solche Aussagen können Angst machen. Während eifrig debattiert wurde („Da wird einem ja jegliche Medienkompetenz abgesprochen“, „Müssen wir jetzt rumgehen und alle Leute warnen?“), stellte ich mir die Frage, ob ich jemals wieder ohne schlechtes Gewissen den Fernseher anmachen könnte.

In der zweiten Sitzung machten uns Adorno und Horkheimer schon weniger Angst, in den letzten Reihen wurde sogar getuschelt. Meine Freundin Anja und ich notierten auf unseren Handouts sinnvolle Sachen wie „Ich stelle keine Wurstwaren her“ oder „Ich befinde mich in einer retroaktiven Hemmung“. So endete unsere erste Begegnung mit Adorno.

Nicht, dass wir in den Kulturwissenschaften nur Adorno lesen würden. Doch bis jetzt taucht an der Uni zu verschiedensten Anlässen sein Name auf, gerne begleitet vom einhelligen Seufzen der Studierenden. Dabei war Adorno bei all seiner Intelligenz und Vernunft letztendlich auch nur ein Mensch, der es sich gerne gut gehen ließ, wie ein Dozent uns versicherte: „Und dann der Aufbau des Buches! Nicht mal die einzelnen Aufsätze sind aus einem Guss! Als Adorno und Horkheimer das geschrieben haben, saßen sie in Kalifornien am Strand und haben sich von ihren Frauen den Rücken eincremen lassen. Da kann man natürlich leicht über die Massen lästern.“ Offenbar waren die beiden auch für unseren Dozenten Vaterfiguren, an denen er sich abarbeiten musste.

Auch über die Uni hinaus wird Adorno uns begleiten. Wer sich von uns beispielsweise auf die Hassfrage aller Kulturwissenschaftler („Äh, und was kann man hinterher damit machen?“) lange Erklärungen ersparen möchte, verkündet einfach trotzig: „Wahrscheinlich werde ich mich in der Schlange beim Arbeitsamt einreihen oder Taxi fahren. Aber dabei kann ich immer noch Adorno lesen.“