Der listenreiche Müller, reaktiviert

Als das Theater noch eine heroische Anstalt war: Mit Heiner Müllers „Philoktet“ blickt die Volksbühne zurück

Die großen Helden sind längst gestorben – Achilles, Hector, selbst Heiner Müller ist schon lange tot. Doch die Nachfrage nach Helden ist in der letzten Zeit wieder gewachsen. Denn erstens ist der Trojanische Krieg noch immer nicht gewonnen, zweitens ist in unseren schnöden Zeiten auch der Künstler als Held wieder zum Sehnsuchtsobjekt geworden, nicht nur als Theaterintendant. So reist also in Heiner Müllers 1958–64 entstandenem Stück „Philoktet“ einerseits der listige Odysseus mit Achilles’ Sohn Neoptolemos zur Insel Lemnos, um Philoktet, dorthin verbannten Kämpfer, samt seines legendären Bogens zu reaktivieren. Auf der anderen Seite schickt die Volksbühne den bulgarischen Theaterregisseur Dimiter Gotscheff zum ersten Mal als Schauspieler auf die Bretter: einen letzten Helden aus glorreichen Zeiten, als das Theaterspielen noch richtig gefährlich war und man damit den Groll von Gestalten wie Walter Ulbricht oder Erich Honecker provozieren konnte.

1983 hatte Gotscheff „Philoktet“ in Sofia aufgeführt und mit seiner Inszenierung den Dramatiker zu einem Brief inspiriert, der als Müller’sche Theater-Poetik längst bedeutender als das leicht hölzerne Drama selber ist. Dieser Brief macht Gotscheff jetzt ebenfalls zum idealen Philoktet-Darsteller: was dem einen sein Bogen, ist dem anderen sein Brief.

„Regie: keine“ hatte die Volksbühne demonstrativ in die Vorankündigung geschrieben und die Premiere als kleines selbstreferentielles Event punktgenau auf Müllers 76. Geburtstag gelegt. Gotscheff spielte selbst den verbannten Helden, der zur Rückkehr in den Krieg um Troja überredet werden soll, und zwar vom jungen Neoptolemos, der zu diesem Zeck in einem Crashkurs das Lügen erlernen soll. Mit Odysseus, der ihn einst verbannt hat, wird Philoktet schwerlich gehen und ihm schon gar nicht beim Siegen helfen wollen.

Neoptolemos ist der junge Samuel Finzi, der schon in Gotscheffs gefeierter Koltès-Inszenierung „Kampf des Negers mit dem Hunde“ spielte. Der Bayer Sepp Bierbichler ist Odysseus, ein gemütlicher Stratege der Macht mit mittelständischer Unternehmernatur. Der Abend ist als öffentliche Theaterprobe angelegt, das heißt, es wird mit beschränkter Haftung für die Qualität des Abends gespielt.

Zunächst ist es ausgesprochen komisch und durchaus hintersinnig, wie Gotscheff den hochtrabenden Text keuchend und spuckend bricht. Wie er sich an Müllers gelegentlich reichlich eitlem Selbstporträt als Märtyrer der Wahrheit abarbeitet und manchmal fast verschluckt, während Odysseus Bierbichler mit ironischem Phlegma zusieht.

Abendfüllend war der Einfall leider nicht. Einigen Herren aus dem Publikum platzte bald der Kragen, offensichtlich weil ihre Sehnsucht nach Müller als Helden hier nun so unbefriedigend Erfüllung fand. „Das war Peymann!“, feixt Finzi beim ersten Türenknallen noch durchaus passend, weil Peymann ja selber immer noch die Pose des Helden pflegt und dabei nicht bemerkt, wie unzeitgemäß und albern diese Haltung längst ist. Der lautstarken Flucht der nächsten Theaterdeserteure war schon nicht mehr mit Witzen beizukommen, denn das Publikum applaudierte ihnen. „Klatschen Sie, weil er weg ist oder weil sie ihn bestätigen?“, fragt Odysseus Bierbichler ins Publikum und die schöne Frau des alten DDR-Kritiker-Papstes Ernst Schumacher ruft heiter: „Beides. Wie immer beides!“ So bekam der Abend schnell Züge einer Geburtstagsparty für die etwas älteren Kinder des Kulturbetriebes. Am Ende war der Jubel beträchtlich, obwohl sich die Qualität der Aufführung in überschaubaren Grenzen hielt. Man feierte sich selbst und selige Zeiten, als Theater noch irgendwie wichtig war. ESTHER SLEVOGT

Volksbühne, 19. 1. 20.00 Uhr