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Archiv-Artikel

Die Furcht der Fischer vor dem Meer

Die Fischer in Südindien haben in der Flut Hab und Gut, Boot und Netze verloren. Und manche trauen sich nicht einmal mehr aufs Wasser

Sie sind verschuldet, sie sind nicht versichert, und ihr Erspartes in Form von ein bisschen Goldschmuck ist fortgeschwemmt

aus Pondichery BERNARD IMHASLY

Virat steht neben seinem zerstörten Haus, doch weder eine eingestürzte Wand noch ein Haufen verwaschener Backsteine sind zu sehen. Der Sand, in dem Virats nackte Füße stecken, ist weißgespült. Er zeigt keine Spuren mehr von seiner Hütte aus Bambusstützen und Kokosfächern, die das Meer, keine 50 Meter weit weg, am 26. Dezember weggewaschen hat.

Virat gehört zu jenen Fischern, welche die Armut gezwungen hat, bis hart ans Meer und buchstäblich in den Sand zu bauen. Jeden Tag kommt er von der Schlafstelle im Schulhaus zum Strand. Dort wartet er, zwischen umgestürzten Booten und den herumliegenden Holzbalken der Katamarane, auf Hilfe des Staats, damit er wieder zum Fischfang ausfahren kann. Virat ist ärgerlich, er weigert sich auch, auf Fragen zu antworten. „Alles, was wir in diesen Tagen sehen, sind Besucher, die Notizen machen, Fragen stellen, in unseren Trümmern herumschnüffeln.“

Auch andere junge Fischer stehen herum, die kräftigen Beine in den Sand gestemmt, den verengten Blick aufs Meer gerichtet, vor dem sie sich nun fürchten – und auf das sie dennoch angewiesen bleiben. Murugan, der wie Virat zwei kleine Kinder hat, sagt: „Wir wollen keine Nahrungsmittel und alte Kleider. Wir wollen Geld, damit wir Boote und Netze anschaffen können. Wir wollen Geld, um ein Haus bauen zu können“.

Das scheint eine vernünftige Haltung, denn nur so lässt sich das Überleben langfristig sichern. Ein Mitarbeiter des Relief Commissioner in Chennai, dem früheren Madras, erläutert aber, was dies konkret bedeutet: „Im Gegensatz zu andern Ländern, die von der Tsunami-Katastrophe betroffen wurden, sind hier die allermeisten Opfer Fischer“, sagt er. Für die meisten von ihnen gilt dasselbe: „Sie sind verschuldet, sie sind nicht versichert, und ihr Erspartes in Form von ein bisschen Goldschmuck ist fortgeschwemmt.“

Die Zahl der betroffenen Familien wird für die Bundesstaaten Andhra Pradesh, Pondichery, Kerala und Tamil Nadu auf rund 200.000 geschätzt, drei Viertel davon in Tamil Nadu. Ein Katamaran kostet im Mittel 35.000 Rupien, umgerechnet knapp über 600 Euro. Katamaran nennt man hier einfache Boote, die aus langen Holzbalken zusammengefügt sind und eher einem lang gezogenen Floß gleichen. Kunststoffboote mit Motoren kosten das Dreifache, und ein Fischkutter mindestens das Zehnfache. Dazu kommen mehrere Netze für die verschiedenen Jahreszeiten, Meerestiefen und Fischarten. Die Netze kosten umgerechnet zwischen 350 und 3.500 Euro. „Der unterste Ansatz für die Ausrüstung eines Fischers liegt bei 2.640 Euro“, sagt Raja Mohan von der Swaminathan-Stiftung, einer in der Region tätigen Nichtregierungsorganisation. „Multiplizieren Sie dies mit 200.000 und Sie sehen, was das heißt. Fischer sind nicht Bauern, denen man einfach Saatgut geben kann“.

Doch stehen nicht hunderte von Millionen Dollar Hilfe bereit? Die Nachrichten von der landes- und weltweiten Welle von Solidarität sind auch bis nach Virampattinam in Pondichery gedrungen. Doch statt der Hoffnung erhöhen sie eher das Misstrauen. Jeder neue Besucher mit Notizblock und Kamera, aber ohne Scheckbuch verdeutlicht den Fischern das Ausbleiben konkreter Wiederaufbauhilfe. In einigen Dörfern haben Gemeinderäte inzwischen beschlossen, jedem Regierungsvertreter den Zutritt zum zerstörten Strand zu verbieten. Sie wollen damit verhindern, dass die Regierung detaillierte Bestandsaufnahmen über das Ausmaß der Schäden an Booten und Netzen machen kann. Stattdessen soll sie, sagt der Gemeindesekretär R. Elumalai, jedem Fischer dieselbe Summe auszahlen. Dies soll unabhängig davon geschehen, wie groß der Schaden war – ob es ein billiger Katamaran war oder der Fischkutter eines wohlhabenden Fischers, ob das Boot nur beschädigt ist oder von der Flutwelle weggetragen wurde. Selbst arme Fischer wie Virat, die kein Boot besitzen und jeweils auf einem Motorschiff mitfahren, sollen gleich viel bekommen. „Nur so können wir verhindern, dass es im Dorf zu Streit und Missgunst kommt.“ Für die Regionalregierungen in Chennai und in Pondichery sind solche Forderungen unrealistisch. Sie insistieren auf einer Schadenschätzung und werden Geldbeiträge entsprechend festsetzen.

Die Fischerei ist, das zeigen die muskelstrotzenden Körper der zornigen jungen Fischer am Strand von Virampattinam, ein Job für Männer. Doch daran hängt auch ein Beruf für die Frauen des Dorfs. Diese warten jeweils am Strand auf den Fang. Sie kaufen den Männern die Fische ab und verkaufen sie auf dem nächsten Markt. Diese Art Arbeit erklärt die hohe Zahl von weiblichen Opfern an jenem Schicksalstag. Die Flutwelle erreichte die indische Küste um neun Uhr morgens, gerade als die Boote vom Meer zurückgekehrt waren und die Frauen den Fang aussortierten und in Körbe luden.

Am Strand von Periyekalapet sitzen ein paar Frauen zusammen und hören den lautstarken Männern zu. Eine andere hebt schweigend die roten Backsteinziegel ihres zerstörten Hauses auf und stapelt sie daneben im Sand. Sie wird von ihrer Enkelin Rosie nachgeahmt, die – keine drei Jahre alt – halbe Ziegel aufliest und emsig auf den Stapel legt, als baute sie mit ihrer Großmutter ein Legohaus. Auf die Frage, ob denn die Männer Recht hätten mit ihrer harten Haltung gegenüber der Regierung, antwortet die alte Frau erst ausweichend: „Wer wird denn unseren Fang jetzt noch kaufen? Wir selbst essen ja keine Fische mehr, weil wir Angst haben, dass sie sich von Toten ernährt haben.“ Dann, nach einer Pause, sagt sie: „Aber es ist besser, wenn sie wieder hinausfahren, als einfach hier zu stehen.“

Vishwanathan ist einer der Männer, die Tag für Tag auf das Meer hinausschauen. „Ich bin wütend auf mich. Denn diese lächerlichen kleinen Wellen machen mir heute Angst. Und früher bin ich bei zehn Fuß hohem Wellengang hinausgefahren.“ Plötzlich kann dieser 50-Jährige, der sonst jeden Stimmungswandel des Meers deuten konnte, dem Wasser nicht mehr trauen. Hat auch sein Glaube an einen göttlichen Schutz Schiffbruch erlitten? Beide sind eng verbunden, wie dies die Allgegenwart des Meers in den religiösen Bräuchen der Küste beweist. Jedes Jahr im August versenken die Fischer eine Statue der Göttin Sangarni Amma, der Meeresmutter, in der Brandung. Sobald diese wieder angeschwemmt wird, wird sie von den Fischern mit Netzen gehoben. Darauf wird die Göttin, manchmal auf einem großen hölzernen Wagen, in einer Prozession zum Tempel begleitet und dort inthronisiert. Hat Amma ihre Fischer im Stich gelassen, als sie zuließ, dass das Meer plötzlich diese Welle anschwemmte? Die Leute am Strand schauen sich an, betreten schweigend. Eine alte Frau sagt schließlich: „Die Natur und die Göttin sind nicht dasselbe. Wir gehen weiterhin jeden Tag in den Tempel.“

In Virampattinam haben die Leute dieses Dilemma nicht. Für sie gibt es keinen Zweifel, dass Sangarni Amma ihnen an jenem Schicksalstag geholfen hat. Nicht zum ersten Mal erzählt Elumalai im Gemeindebüro die Geschichte: „An jenem Tag bemerkte der Priester früh am Morgen, dass sich im Tempelteich Blasen bildeten. Die Nachricht verbreitete sich im Dorf, und viele Kinder kamen zum Tempel, um sich die Wellen im Wasser anzusehen. Sonst wären sie wie immer am Sonntag zum Strand gegangen, um Cricket zu spielen. Viele von ihnen wären ertrunken.“

Das zweite Wunder war dann der Swaminathan-Stiftung zu verdanken. Diese hatte vor einigen Jahren eine Lautsprecheranlage eingerichtet, Teil eines Informationsnetzwerks, bei dem die Fischer über die Wetterverhältnisse und die Wasserströmungen informiert werden.

Als an jenem Morgen plötzlich das Wasser anstieg, lief ein Mann zum Gemeindebüro, brach das Schloss auf und rief alle Leute am Ufer auf, zu fliehen. Diese, vielleicht bereits durch das eigenartige Phänomen im Tempelteich aufgeschreckt, folgten der Aufforderung. Virampattinam verlor nur fünf Menschen an die Flutwelle, zwei Kinder und drei alte Leute.