: Wird Leben für anderes Leben geopfert?
Widerstrebend unterzeichnete der Bundespräsident gestern ein Gesetz, das es erlaubt, entführte Flugzeuge im Notfall abzuschießen. Köhlers Verfassungsbedenken findet Innenminister Schily nur „irrig“. Klagen sind wahrscheinlich
BERLIN taz ■ Monatelang hat Bundespräsident Horst Köhler (CDU) geprüft – und sich nun doch durchgerungen. Gestern unterzeichnete er das „Luftsicherheitsgesetz“. Gleichzeitig ließ er aber den Bundeskanzler sowie die Präsidenten von Bundestag und Bundesrat brieflich wissen, er zweifle daran, dass das Gesetz verfassungsgemäß ist.
Köhlers wichtigster Einwand betrifft Paragraf 14 des Luftsicherheitsgesetzes. Es gestattet im Extremfall, entführte Passagierflugzeuge abzuschießen, um den Tod weiterer Menschen zu verhindern. „Damit wird Leben zugunsten anderen Lebens geopfert“, moniert der Bundespräsident. Dies sei vor allem mit Artikel 2 des Grundgesetzes unvereinbar, der Leben und körperliche Unversehrtheit schützt.
Innenminister Otto Schily (SPD) gestand gestern großzügig zu, „dass der Bundespräsident rechtliche Auffassungen in bestimmten Fragen“ habe. Doch blieb er hart: Köhlers Interpretation sei „irrig“. Diese Meinung teile das „gesamte Kabinett“.
Es gehe nicht um eine Abwägung von Leben gegen Leben – die sei in der Tat verfassungswidrig. Denn entführte Flugzeuge dürften nur dann abgeschossen werden, wenn „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ feststehe, dass die Passagiere sowieso sterben. Wie kann eine Einsatzleitung da sicher sein? „Ein unauflöslicher Gewissenskonflikt“, musste Schily zugeben.
Dennoch blieb er dabei, dass der Extremfall geregelt sein müsse. Er erinnerte an den Luftzwischenfall von Frankfurt: Am 5. Januar 2003 hatte ein geistig verwirrter Mann ein Segelflugzeug entführt und gedroht, sich in ein Hochhaus zu stürzen. Mit sichtbarem Schaudern resümierte Schily gestern, wie schwierig der Bundeswehreinsatz damals war: Man habe nicht nur mit dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch telefonieren müssen – es sei schon überlegt worden, in Bayern anzurufen, nachdem die entführte Maschine kurzzeitig die Landesgrenze überflogen hatte.
Das Luftsicherheitsgesetz erlaubt nun in Paragraf 13, Soldaten zur Gefahrenabwehr einzusetzen – wenn das betroffene Bundesland darum bittet. Auch hier hat Köhler Verfassungsbedenken: Nach Artikel 35 dürfe die Bundeswehr zwar Amtshilfe leisten, doch müsse die Befehlsgewalt beim Land liegen – nicht beim Verteidigungsminister. Eigentlich, so Köhler implizit, hätte man das Grundgesetz ändern müssen, statt sich mit einem einfachen Gesetz vorbeizumogeln.
Doch eine Verfassungsänderung wollte Rot-Grün vermeiden: Sie verlangt eine Zweidrittelmehrheit, und die Sorge war groß, dass die Union dies nutzt, um den Inlandsauftrag der Bundeswehr kräftig auszuweiten – etwa auf den Objektschutz.
Schily war gestern geneigt, „einzuräumen“, dass man bei der Frage der Amtshilfe tatsächlich „geteilter Meinung“ sein kann. Allerdings fand er es „etwas ungewöhnlich“, dass Köhler eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht angeregt habe.
Potenzielle Kläger gibt es längst. Bereits im Sommer kündigte der FDP-Politiker Gerhart Baum eine Verfassungsbeschwerde an. Die Union will nächste Woche entscheiden, ob sie vor das Karlsruher Gericht zieht. ULRIKE HERRMANN