VW wird Meister

MEISTERPARTY Am Samstag wurde der VfL Wolfsburg Deutscher Fußballmeister. Die Feier hatte einen großen Moment, der Rest war VW: Stechuhr, Autoshow. Der Erfolg der Betriebsmannschaft als Bonifikation für die mittlere und höhere Managementebene des Konzerns. Porsche geschluckt – Meisterschaft ausgespuckt

Wolfsburg ist mit 122.000 Einwohnern die sechstgrößte Stadt des Landes Niedersachsen.

■ Nach Braunschweig geht der Titel eines Deutschen Fußballmeisters zum zweiten Mal in dieses Bundesland.

■ Die Stadt verdankt ihren Namen einer Burg, die in einer Urkunde des Jahres 1302 als Sitz derer von Bartensleben erwähnt wird.

■ Am 26. Mai 1938 Grundsteinlegung des Volkswagenwerks, in dem der „KdF-Wagen“, der „Käfer“, gebaut wird. In unmittelbarer Nähe zum Werk sollte eine Stadt für die Arbeiter entstehen.

■ 1. Juli 1938: Gründung der „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“.

■ Am 25. Mai 1945 bekommt die Stadt auf Weisung der britischen Besatzungsmacht den Namen „Wolfsburg“. ROR

VON ROGER REPPLINGER

Die Schale, die nicht von, aber aus Pappe ist, kostet vor dem Spiel fünf Euro und geht gut. Die Fans – das Stadion ist ausverkauft – sind brav und ängstlich. Vor dem ersten Mal ist das so. Nach dem zweiten Tor, so um die 15. Minute herum, umarmen sich die Ersten. Wie es um die Psyche des Wolfsburger Fußballfans steht, zeigt das Transparent: „Scheiß auf 1967 – 2009 wird Geschichte geschrieben“. Es bezieht sich auf die Meisterschaft von Eintracht Braunschweig und den Minderwertigkeitskomplex der Neuankömmlinge aus Wolfsburg, der Parvenüs. Sie wissen, dass sie nicht dazugehören.

In der 75. Minute, beim Stand von 5 : 1, holen die Fans das Plakat „Deutscher Meister“ hervor. Es wird „Deutscher Meister wird nur der VfL“ gebrüllt. In der 89. Minute klettern VfL-Fans über die Absperrung der Nordkurve, springen in den Abgrund, überwältigen nach kurzer Zeit in erdrückender Überzahl die Ordner, stoßen Werbebanden um und stürmen nach dem Pfiff den Rasen. Sie beißen vor Begeisterung ins Gras, küssen und streicheln es.

Damit hatte keiner gerechnet: Echte Begeisterung, ein bisschen Fanatismus, gebrochene Regeln. Da staunen Hans Dieter Pötsch, Finanzvorstand der Volkswagen AG und Aufsichtsratsvorsitzender des VfL Wolfsburg, Martin Winterkorn, Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG, und Stephan Grühsem, Leiter der Volkswagen Konzern Kommunikation und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des VfL. Sie und DFL-Chef Reinhard Rauball trauen sich nicht auf den Rasen, auf dem auch Fans sind.

Der Stadionsprecher erklärt, dass der VfL die Schale nicht bekomme, wenn die Fans den Rasen nicht räumen. Nützt nichts. Erst als der linke Verteidiger Marcel Schäfer in der 101. Minute ins Mikro ruft: „Geht auf die Tribüne, sonst rückt die DFL die Schale nicht raus“, krabbeln die Fans über die Absperrungen, die sie niedergerissen haben, und ziehen sich auf die Tribüne zurück.

In der 120. Minute geht Trainer Felix Magath auf die DFL-Bühne, in der 121. Minute bekommt Kapitän Josué die Schale. In der 132. Minute wird Magath mit Bier geduscht. In der 137. Minute steht ein kleiner, dicker Mann mit weißem Mützchen auf dem Rasen und singt schnell das Stadion leer: DJ Ötzi. In der 255. Minute setzt sich der Autokorso in Gang. Der Konzern, der auftritt, als habe er den Fußball übernommen wie eine bankrotte Firma, zeigt, was er hat: Bentley, Lamborghini, Audi, Eos. Hauptsache offen. Aber nur, was das Dach der Autos anbelangt.

In der 300. Minute spricht Rolf Schnellecke (CDU), der Oberbürgermeister (OB) der „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“, wie Wolfsburg bei der Gründung 1938 hieß, im Foyer des Rathauses, das auch ein städtisches Schwimmbad sein könnte. „Und ich sage, meine Damen und Herren, liebe Freunde“, sagt er, „ganz Wolfsburg, ja ich sage, ganz Deutschland…“. Manches von dem, was er sagt, stammt aus der Pressemitteilung des VW-Konzerns. Als Schnellecke später in einem der Autos sitzt, in dem auch die Spieler auf die Bühne gefahren werden, pfeifen die Fans. Das hat er verdient.

In der 320. Minute ist seine Rede zu Ende, in der 321. Minute tragen sich Spieler, Trainer, Betreuer und so weiter ins Goldene Buch der Stadt ein. Schnellecke lässt sich mit Spielern und Trainern fotografieren. Der Weg vom Rathaus zur Bühne sind Luftlinie 80 Meter. Er wird per Auto zurückgelegt, weil es das Auto ist, das diese Meisterschaft brachte. Nach 335. Minuten rollen die ersten Fahrzeuge auf die Bühne.

Die Manager der mittleren und höheren Führungsebene im VIP-Bereich kennen die Daten der Fahrzeuge und murmeln sie vor sich hin. In diesem Moment wird deutlich, was diese Stadt ist und was nicht. Keiner kann hier etwas mit dieser Meisterschaft anfangen. Deshalb nutzt sie OB Schnellecke zur Propaganda für die Europawahl und VW zu PR. Die Spieler sind Staffage, der Fußball hat sich in die Luft, die im Ball ist, aufgelöst.

In der 545. Minute fragt ein Türke, der seit 46 Jahren in Deutschland lebt und auch im Zug nach Hamburg sitzt: „Wolfsburg 5 : 1?“ Ja. „Meister?“ Ja. „Ich Wolfsburg“, sagt er. Der Fußball überlebt auch den Meistertitel des VfL Wolfsburg.

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