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Archiv-Artikel

„Das ist die erste Multikulti-Etappe“

Von parallelen Gesellschaften: Der Kulturhistoriker Sander Gilman vergleicht die Integration der Juden im 19. Jahrhundert mit der von Muslimen heute. Ein Gespräch über Assimilation und Rückständigkeit, die mangelnde Durchlässigkeit der deutschen Mittelschicht und den Integrationsfaktor Bildung

INTERVIEW STEFFEN STADTHAUS

taz: Herr Gilman, hierzulande gab es in den letzten Wochen erhitzte Debatten über die Integration der Muslime. Deutschland kann seit dem 19. Jahrhundert auf eine unselige Tradition von deutsch-jüdischen Integrationsdebatten zurückblicken. Sie haben beide verglichen. Gibt es Parallelen? Und was können Muslime heute aus den jüdischen Erfahrungen lernen?

Sander Gilman: Obwohl es viele, vor allem weltpolitische Unterschiede gibt, die einen Vergleich unmöglich machen, lässt sich nicht übersehen, dass viele Probleme und Diskussionen sich sehr stark ähneln, ja fast identisch sind. Es geht um die Integration eines „Volkes“, das einer anderen Religion anhängt, die dem Christentum aber sehr ähnlich ist, das andere Sprachen spricht und aus verschiedenen Ländern stammt.

Die Juden kamen einst aus Osteuropa, Spanien und den Rheingebieten. Die Muslime kommen aus Südasien, Nordafrika oder der Türkei. Hier setzt mein Vergleich an.

Allerdings habe ich nicht das Ziel, die Erfahrungen der Juden in direkte Modelle für die Integration der Muslime umzusetzen. Man kann die Integrationslösungen vergleichen, auch ohne Prognosen anzustellen.

Um welche Themen ging es bei den deutsch-jüdischen Integrationsdebatten?

Zum Beispiel um die Beschneidung. Sie galt im 19. Jahrhundert als ein Ausweis der Rückständigkeit des Judentums. Den Reformern stellte sich die Frage, inwieweit man der säkularen Gesellschaft entgegenkommen kann, ohne das Judentum total zu verändern.

Der Rabbiner Samuel Holtheim hat 1840 dafür plädiert, die Beschneidung ganz aufzugeben. Natürlich ist er auf Ablehnung gestoßen. Aber das hat innerhalb der Religion zu einer Modernisierungsdebatte geführt, die interessante symbolische Lösungen hervorgebracht hat. Schließlich wurde die Idee aufgeworfen, die Beschneidung geschlechterdemokratischer zu handhaben. Auch von Mädchen sollte symbolisch ein Tropfen Blut genommen werden. Die Frage der Geschlechtergerechtigkeit hielt durch diese Debatten Einzug in die Religion.

Glauben Sie, dass solche Reformen auch in der muslimischen Diaspora denkbar sind? Auch hierzulande gilt die Genitalbeschneidung ja als Ausdruck der Rückständigkeit eines Teils des Islams. Oder helfen heute nur Verbote weiter?

Ich glaube, dass der erste Schritt sein muss, das Ritual ernst zu nehmen und zu versuchen, einen neuen Umgang mit den Ritualen zu erfinden. Wie kann man es an eine moderne, säkularisierte Gesellschaft anpassen? Kann man die „Verstümmelung“ nicht symbolisch verändern? Man kann. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie Rituale den Maßstäben der Mehrheitsgesellschaft angepasst wurden, die heute Alltag geworden sind.

In den vergangenen Monaten hat es heftige Debatten um das Kopftuchverbot gegeben. In Frankreich wurde es durchgesetzt. Aufgrund der vielen Gemeinsamkeiten zwischen beiden Religionen treffen solche Verbote, ob gewollt oder ungewollt, immer auch jüdische Rituale. Wie stehen Sie dazu?

Deshalb müssten eigentlich zumindest bei den orthodoxen Juden und orthodoxen Muslimen gemeinsame Interessen vorhanden sein. Leider lässt die gegenwärtige Politik diese gemeinsamen Interessen als unvorstellbar erscheinen. Dabei gibt es sie: Wenn man zum Beispiel in der ganzen EU ein Schächtverbot durchsetzt, das, davon gehe ich aus, irgendwann kommen wird, so müssen Juden und Muslime ihr Fleisch über große Umwege importieren. Das erschwert das Leben beider Religionen.

Nach den Ereignissen in Holland wurden viele Stimmen laut, die behaupteten, dass muslimische Einwanderer generell nicht in westliche Gesellschaften integrierbar sind. Auch Juden galten immer als „verstockt“. Kann man die Vorwürfe vergleichen?

Den Ostjuden in Berlin oder London hat man am Anfang des 20. Jahrhunderts auch vorgeworfen, dass sie nicht integrierbar sind. Ein Bericht über die Gesundheit der Juden im Londoner East End, den ich gerade las, stellte so große Unterschiede zwischen dem Leben der Engländer und dem der polnischen Juden fest, dass eine Integration für absolut unmöglich angesehen wurde. In Wirklichkeit assimilierten sich die Ostjuden in London innerhalb von einer Generation.

Was aber sind die Gründe dafür, dass Migranten, deren Familien schon in der dritten und vierten Generation in Deutschland leben, noch immer nicht ausreichend integriert sind? Insbesondere junge Migranten wenden sich sogar wieder traditionellen Werten zu.

Wichtig ist zu prüfen, welche Barrieren von innerhalb und außerhalb die Integration erschweren. Es gibt mehrere Faktoren: die Zahl der Muslime, die viel größere Angst des Westens und das außereuropäische Nationalgefühl vieler Muslime, das durch die mediale Propaganda aus den arabischen Staaten verstärkt wird. Außerdem sehe ich in Deutschland die Gefahr, dass die muslimischen Einwanderer Teil einer permanenten Unterklasse werden. Dann ist man mit den gleichen Problemen konfrontiert, die in den USA die Afroamerikaner haben. Die Mittelklasse ist in Deutschland für Einwanderer – besonders für muslimische – nicht durchlässig genug.

Eine türkischstämmige Bekannte erzählte mir kürzlich, dass sie Viertel wie Kreuzberg meidet, weil sie Angst habe, mit den nicht assimilierten Migranten gleichgestellt zu werden. Gibt es solche Ängste, die Züge von Selbstverleugnung tragen, nicht auch in der deutsch-jüdischen Geschichte?

Es erinnert an die Reaktion der bürgerlichen Juden in Deutschland gegenüber den Ostjuden. Die sahen anders aus, sprachen eine komisch klingende Sprache und lebten konzentriert im Scheunenviertel. Die deutschen Juden hatten längst ihre Namen geändert und wollten an ihre eigene Vergangenheit nicht mehr erinnert werden. Ähnlich reagieren manche Muslime, die in der bürgerlichen Gesellschaft angekommen sind. Der Unterschied ist, dass wir heute in einer multikulturellen Gesellschaft leben und das im Großen und Ganzen als etwas Positives ansehen: Multikulturell zu sein gilt als schick.

Im 19. Jahrhundert war es dagegen nicht geduldet, sich als anders aufzufassen. Bei den Afrodeutschen, die im TV auftreten und sich explizit als afrodeutsch begreifen, wird das toleriert. Das Problem der Muslime ist, dass ihnen die „Bildung“, die den Juden vom 18. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert alles ermöglicht hat, schwer zugänglich ist. Sich über die Schulen und Universitäten wirtschaftlich und gesellschaftlich zu integrieren, ist heutzutage mit zu vielen Schwierigkeiten verbunden. Die Gefahr ist, dass eine permanente Unterklasse entsteht, wenn es die Mehrheit der Migranten in mehreren Generationen nicht schafft, sich über den Faktor „Bildung“ zu integrieren. Die europäischen Länder müssen die Bildungseinrichtungen für Minderheiten zugänglich machen. Das läuft in England und Frankreich allerdings bedeutend besser als in Deutschland.

In Deutschland wird der Begriff Multikulturalismus gerade schwer in Frage gestellt: Multikulti sei out, heißt es jetzt von allen Seiten. Vergleicht man Berlin etwa mit London, dann stellt sich die Frage: Hat es in Deutschland bisher überhaupt eine multikulturelle Gesellschaft gegeben? Was ist überhaupt Multikulturalismus?

Multikulturalismus wird überall anders verstanden. In Frankreich bedeutet Multikulturalismus, dass am Ende alle Franzosen werden: Franzosen mit verschiedenen Geschmäckern, Vorlieben und kulturellen Praxen. Aber in Deutschland herrschte bis vor kurzem der Gegensatz zwischen Deutschsein und Anderssein. Man weigerte sich ja, als Einwanderungsland zu gelten. Nur die Juden hat man nach der Schoah als Mitbürger zugelassen.

Multikulturalismus ist in jeder Gesellschaft vorhanden, zu allen Zeiten. Er ist weder neu noch modern. Auch Deutschland hat ständige Einwanderungswellen mitgemacht: Die Hugenotten sind eingewandert, später die Polen. Die Kultur, Sprache, Essen, Verhaltensweisen, das alles verändert sich ständig. Wenn wir heute sagen, Hybridität ist etwas Gutes oder Schlechtes, vergessen wir, dass es sie immer gab.

Manche Politiker sehen das anders. Was halten Sie von der Forderung, dass in Moscheen nur noch deutsch gepredigt werden sollte: Werden da nicht alte Ängste geschürt, wie man sie im 19. Jahrhundert vor der Sprache der Juden hatte?

Reformer wie Mendelssohn haben einst selbst gefordert, dass man in der Synagoge deutsch predigen sollte. Die Predigt wurde nach protestantischem Muster eingeführt und es wurde auf Deutsch gepredigt. Die Reformierten sind nach Amerika ausgewandert und der Witz ist, dass dort bis ins 20. Jahrhundert auf Deutsch weiter gepredigt worden ist, nicht auf Englisch. Ob sich solch eine Praxis auch in Moscheen durchsetzt, wird die Zeit zeigen.

Praktische Vorteile hat es, denn man hat die Möglichkeit, die Religion in der neuen Landessprache zu verstehen. Aber dass man das durch Gesetze forciert, indem man Vorschriften erlässt, finde ich problematisch.

Der Soziologe Y. Michal Bodemann sieht in den aufgeregten Debatten um die hier lebenden Muslime antisemitische Untertöne. Kann diese Stimmung auch gegen hier lebende Juden umschlagen?

Sobald man eine Minderheit angreift, gibt es Möglichkeiten, auch andere Minderheiten anzugreifen. Und gerade weil es so viele rituelle Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Muslimen gibt, hat das auch Auswirkungen auf ihre Behandlung. Es ist unmöglich zu sagen, wir verbieten nur schwarze Kopftücher für Frauen. Trotzdem gibt es natürlich große Unterschiede zwischen antiislamischen und antisemitischen Stereotypen.

Wo sehen Sie den Multikulturalismus in zehn Jahren?

Man soll der Entwicklung Zeit lassen. Die dritte Einwanderergeneration übernimmt in Deutschland das Ruder. Und vieles hat sich schon verändert: Zum Beispiel gibt es jetzt glücklicherweise neue, türkische Stimmen in der deutschen Politik und Kulturlandschaft. Ein Deutschtürke hat bei der letzten Berlinale gewonnen: Das ist ein Novum, zumal „Gegen die Wand“ ein Problemfilm ist: Das zeigt, dass man inzwischen das Selbstbewusstsein besitzt, über sein beschissenes Leben einen Film zu machen.

Auch hier tun sich Parallelen auf: Erst im 19. Jahrhundert gab es eine Reihe jüdischer Romane, die die miserable Lage der Juden zum Thema hatten. Die Autoren solcher Bücher und Filme sind meistens schon Bestandteil einer neuen Kultur geworden, die eine Reflexion über die miserable Situation erst ermöglicht: Das ist die erste Multikulti-Etappe.