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Archiv-Artikel

Notfalls mit dem Kran hinauf zum Sozialamt

Der Berliner Behindertenverband (BBV) war der erste Gesamtberliner Verband nach der Wende. Heute feiert er sein 15-jähriges Bestehen

Das Kino International an einem kalten Januarabend. Premierenfeier für den Defa-Klassiker „Rückwärts laufen kann ich auch“. Vor den Türen fröstelt das Premierenpublikum.

25 Rollstuhlfahrer blockieren die Eingänge. Sie können den Film, in dem es um ein behindertes Mädchen geht, nicht anschauen – im International gibt es keine Rollizugänge. Die Blockade vor fünfzehn Jahren war die erste Aktion des Berliner Behindertenverbandes (BBV). Er wurde am 13. Januar 1990 gegründet und feiert heute ab 12 Uhr Jubiläum im Kleisthaus in der Mauerstraße in Mitte. Zusammen mit Aktivisten der ersten Stunde, Freunden und Bekannten will der Verband das vergangene Revue passieren lassen. „Ein wenig von der positiven Wendestimmung soll auch am Samstag wieder reproduziert werden, um Leute zu aktivieren“, sagt BBV-Vorsitzender Ilja Seifert, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der PDS.

Der BBV war der erste Gesamtberliner Verband nach der Wende. Gründungsmitglieder waren vor allem Menschen aus dem Osten des Landes – wie Ilja Seifert, Uschi Rehmer oder Martin Marquardt, derzeitiger Behindertenbeuftragter des Senats. Viele kannten sich schon aus Schulzeiten.

Damals wie heute versteht sich der Verband als behindertenpolitische Selbstvertretung, aber auch als Selbsthilfegruppe. Vergangenes Jahr zog er zum ersten Mal vor Gericht – gegen die Stadt Berlin. Zusammen mit den Hertha Rollis, dem Verein der behinderten Fans des Erstligisten. Denn nach dem Umbau des Olympiastadions waren Rollifahrer im Stadion regelrecht ausgesperrt. Bei Spielen konnten sie, die hinter den Fans in der Fankurve sitzen sollten, nichts sehen. Ende letzten Jahres verpflichtete sich dann das Land Berlin, nachträglich die Rollstuhlplätze mit einem Podest zu versehen.

Es zählen vor allem die kleinen Aktionen. Mitglieder des BBV sind in vielen Behindertengremien aktiv – und haben es oft schwer, ein offenes Ohr für ihre Interessen zu finden.

„Heute muss sich der BBV spektakuläre Aktionen einfallen lassen, um aufzufallen“, sagt Seifert. Eine davon war die Kranaktion vor dem Lichtenberger Sozialamt. Vor sieben Jahren ließ sich der Vizevorsitzende Horst Lemke mit einem großen Hubkran von außen an Fenster des Amtes hieven. So nahm er die Sprechstunde im Rathaus war, in dem es keine Aufzüge gab.

Fünfzehn Jahre nach Gründung zieht der Vereinsvorsitzenden Seifert eine eher gemischte Bilanz. Die Lebens- und Teilhabebedingungen von behinderten Menschen würden durch eine „weitere Reduzierung staatlicher Förderung“ noch weiter eingeschränkt, sagt er. Dass es behinderten Menschen finanziell schlechter geht, zeigen auch die Mitgliederzahlen im Verein. Von 1.000 in den Anfangsjahren ist er auf rund 500 geschrumpft, mit fallender Tendenz. „Viele können sich den monatlichen Mitgliedsbeitrag einfach nicht mehr leisten.“

Trotzdem will der Verband in den nächsten Jahren vieles erreichen. „Die Selbstvertretung von Behinderten soll zur Selbstverständlichkeit werden“, wünscht sich der Vorsitzende Seifert. Er arbeitet derzeit zusammen mit der BVG an Außenansagen für Busse und Trams, damit sich auch Blinde leicht durch die Stadt bewegen können. Und bleibt ansonsten realistisch: „Wenn wir es schaffen würden, wieder gehört zu werden, dann haben wir schon viel erreicht.“

IWONA KALLOK