: Eine Welt im Untergang
Gegen Ernst Jünger und mit Karl Kraus: Der zweite Teil von Ford Madox Fords Roman-Tetralogie „Parade’s End“
Krieg ist verheerend, das weiß er genau, schließlich befindet er sich als Offizier eines Nachschubbataillons nicht weit hinter der Front. Er weiß sogar noch mehr: „Die Welt war im Untergang begriffen.“ Denn es handelt sich um den Millionen Tote fordernden Stellungskampf in Frankreich mitten im Ersten Weltkrieg. Und doch gibt es für ihn Schlimmeres. Etwa, wenn einen die eigene Ehefrau besucht.
So spricht und denkt Christopher Tietjens. Er ist Ford Madox Fords Protagonist aus der in den Zwanzigerjahren entstandenen Tetralogie „Parade’s End“, die den Ersten Weltkrieg als Epocheneinschnitt behandelt und deren zweiter Teil, „Keine Paraden mehr“, nun auf Deutsch vorliegt. Wer Tietjens noch nicht aus dem vor Jahresfrist veröffentlichten ersten Teil „Manche tun es nicht“ kennt, dem sei er kurz vorgestellt. Vor dem Krieg war er ein wohlhabender konservativer Landadeliger und leidenschaftlicher Statistiker im Staatsdienst. Seine Frau Sylvia betrügt ihn, eine Scheidung ist aber ausgeschlossen, da es Tietjens Ansehen schaden würde. Er freundet sich mit einer Suffragette an, und es beginnt eine Beziehung, auf die er in „Keine Paraden mehr“ sehnsüchtig zurückblickt: „Ich war mir sofort bewusst, mit Miss Wannop in ein Verhältnis der Sympathie, nicht der Leidenschaft, eingetreten zu sein.“
Indes wachsen seine finanziellen Schwierigkeiten und auch die Gerüchte über seine Verhältnisse. Tietjens schweigt dazu, denn „nach seinem Verständnis galt für Engländer der höheren Gesellschaftsschichten sowohl bei der Schließung als auch dem Scheitern einer Ehe die Maxime: Keine Szenen.“ Am Ende von „Manche tun es nicht“ flieht er nach Frankreich, an die Front des Ersten Weltkriegs. Er zieht den Krieg dem drohenden Skandal in London vor. Hier lebt Tietjens nun in der Welt der Ersatzbataillone hinter der Front, und er kennt tausend Gründe, warum nichts vorangeht und England den Krieg zu verlieren droht: Weil die Regierung oder das Heereskommando anders plant, weil britische Offiziere keine kanadischen oder australischen Rekruten befehligen wollen oder weil gerade die französische Eisenbahn bestreikt wird. Doch aus seinem Wissen entspringt kein Handeln. Tietjens hat längst resigniert. Was bleibt, ist der schmutzige Krieg, nicht mal mehr Ruhm wird es geben. „Aus mit Hope and Glory, keine Hoffnung mehr, keine Ehre, weder für Sie noch für mich, und auch keine Paraden (…)“ Bei so viel Pessimismus sollte ihn eigentlich nichts mehr schocken können, doch es kommt anders. Ehefrau Silvia erreicht die Nachschublinien, sie bringt die üblichen Affären mit. Will er sich treu sein, muss Tietjens wieder fliehen.
Ford Madox Ford hat in seinem Protagonisten allerlei Eigenschaften zusammengeführt, die nicht so recht zusammenpassen wollen. Tietjens ist unnationalistischer Tory, weltläufiger Traditionalist, kultivierter Simpel oder „eine Errungenschaft des achtzehnten Jahrhunderts“. Das alles klingt so eigenartig wie ein mitfühlender Konservativer, und wenn der Begriff Sinn macht, dann hier. Tietjens schafft es nicht, die selbst geschaffenen Widersprüche aufzulösen oder sich mit ihnen abzufinden. Der Krieg hat an seinen Problemen nichts geändert.
Nun hilft nur noch die Flucht nach ganz vorn an die Front. Tietjens muss, will er seiner Frau entkommen, einer jener Millionen von Soldaten werden, die allein „der ungeheure, blinde Wille antreibt, an dem einen großen Unternehmen teilzunehmen, das der gesamten überlieferten Geschichte der Menschheit zur Ehre gereicht, und es zu vollenden. Diese Anstrengung ist das einzige, unbezweifelbar Ehrenhafte im Leben jedes einzelnen. Das übrige Leben all dieser Männer ist allerdings eine schmutzige, unbedeutende, erbärmliche Lappalie. Wie das deinige. Wie das meinige.“
Das „Ehrenhafte im Kampf“ hat auch Ernst Jünger gesucht, noch so ein Konservativer, der vom Krieg gar nicht lassen konnte. Doch in all seiner Entrücktheit, seinem Pessimismus und seiner tiefen Depression steht Tietjens’ Schöpfer Ford einem Jünger diametral entgegen. „Keine Paraden mehr“ ist viel mehr die englische Entsprechung zu Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“ und als solches ein Buch, das zum Krieg ein kritisches und eben kein affirmatives Verhältnis hat. Krieg ist verheerend, das weiß Ford Madox Ford genau. MAIK SÖHLER
Ford Madox Ford: „Keine Paraden mehr“. Aus dem Englischen von Joachim Utz. Eichborn Berlin 2004, 336 Seiten, 22,90 Euro