: Die Kurden streben nach Unabhängigkeit
Die Gewalt im Irak hat die kurdische Forderung nach einem eigenen Staat bestärkt. Bei den Wahlen setzen sie mit ihrer rein ethnischen Liste auf eine Stärkung ihrer Position. Von einer neuen Verfassung fordern sie die Trennung von Staat und Religion
AUS ERBIL INGA ROGG
Die Euphorie, die der Sturz des Regimes von Saddam Hussein im April 2003 in den kurdischen Gebieten auslöste, ist verflogen. Von den ersten vorsichtigen Schritten der Annäherung zwischen Arabern und Kurden nach einem Jahrzehnt der Separation, dem beginnenden Waren- und Gedankenaustausch und der Orientierung auf Bagdad ist nicht mehr viel übrig. Die meisten Politiker sind wieder an ihren alten Platz in Kurdistan zurückgekehrt, nach Salahaddin und Qala Cholan, wo Masud Barzani und Jalal Talabani, die beiden mächtigen Männer der kurdischen Politik, die Fäden ziehen.
Wenn am 30. Januar gewählt wird, werden die Kurden nicht nur für das irakische Nationalparlament, sondern erstmals seit 1992 auch wieder für das kurdische Regionalparlament ihre Stimme abgeben. Eine echte Wahl haben die Bürger nicht. Nach sechsjährigen zähen Verhandlungen haben sich Barzanis Demokratische Partei (KDP) und Talabanis Patriotische Union Kurdistans (PUK) auf die Wiedervereinigung ihrer seit Jahren getrennten Administrationen geeinigt. Zusammen mit der dritten Kraft im Land, der gemäßigten Islamischen Vereinigung Kurdistans, und einer Reihe kleinerer Parteien haben KDP und PUK ein Wahlbündnis geschmiedet.
Dass ihre Liste eine überwältigende Mehrheit der 111 Sitze erlangen wird, bezweifelt kaum jemand. Zwar gehen einige kleinere Gruppierungen mit eigenen Kandidatenlisten ins Rennen, den Wahlausgang werden sie aber kaum beeinflussen. Insofern dient die Wahl in erster Linie der Bestätigung des Status quo, statt im Parlament von Erbil werden die Weichen der Politik auch künftig in den Hinterzimmern von Salahaddin und Qala Cholan gefällt. Zwar bedauern viele, dass damit der demokratische Wettstreit zwischen den Parteien auf der Strecke bleibt. Doch wenn das der Preis ist, den sie für den Konsens unter den ehemaligen Rivalen erbringen müssen, dann sind sie dazu bereit.
Für den Historiker und Dramatiker Mohammed Kermin Hawrami ist es der Tribut, den die Kurden für ihr größeres Ziel erbringen müssen. „Die Demokratie läuft uns nicht davon“, sagt Hawrami. Zuerst der eigene Staat und dann die Demokratie – von diesem Gedanken ist auch die Kampagne für ein Referendum getragen, die eine freie Abstimmung darüber fordert, ob die Kurden Teil des Irak bleiben oder einen eigenen Staat gründen wollen. Innerhalb weniger Wochen haben die Initiatoren mehr als eineinhalb Millionen Unterschriften zusammengetragen. Ende des Jahres wollen sie diese dem UN-Sicherheitsrat vorlegen.
Offiziell bezeichnen Barzani wie Talabani die Gründung eines kurdischen Staats als unrealistisch. In der Praxis läuft ihre Politik derzeit jedoch auf mehr Eigenständigkeit hinaus. So haben sich KDP und PUK bei der Aufstellung der Liste für die gesamtirakische Wahl gegen eine Liste mit Vertretern aus allen Landesteilen entschieden und stattdessen eine eigene Liste mit kurdischen Kandidaten erstellt.
Die wichtigste Aufgabe des Übergangsparlaments wird die Ausarbeitung einer Verfassung sein. Dabei haben die Kurden signalisiert, dass sie eine Trennung von Religion und Staat sowie weit reichende Rechte bei der Erhebung von Steuern und in der Außenpolitik verlangen. Vor allem aber fordern sie die Eingliederung von Kirkuk in den kurdischen Teilstaat. Da die Verfassung mit Zweidrittelmehrheit verabschiedet werden muss und später in einem Referendum zur Abstimmung gebracht wird, sind die Kurden in einer starken Position.
In der Kirkuk-Frage zeigen sich Barzani und Talabani bislang noch zu einer Verhandlungslösung bereit, vor allem um die USA nicht zu verärgern. Doch deren Position ist infolge der zehrenden Kämpfe in den letzten Monaten deutlich schwächer geworden. Der Tag scheint näher zu rücken, an dem die USA mehr auf den guten Willen der Kurden angewiesen sind als umgekehrt.
In dem Meer der Gewalt wirkt Kurdistan noch wie eine Insel des Friedens. Wirtschaftlich geht es der Region so gut wie wohl noch nie. Bau-, Infrastruktur- und Konsumsektor boomen. Knapp zwei Jahre nach dem Krieg ist es der einzige Landesteil, in dem mittelfristig Aussicht auf den von George W. Bush prophezeiten Demokratieschub besteht. Die Kurden angesichts der Gewalt im Zweistromland an die kurze Leine Bagdads zu legen scheint so aussichtslos wie verfehlt. Ein loser Staatenbund, der die äußeren Grenzen des Irak zwar nicht antastet, den Kurden aber weitgehende Eigenständigkeit gewährt, scheint derzeit der einzig machbare Weg.