: Reich beschenkt vor dem Nichts
AUS PORT BLAIRBERNHARD IMHASLY
Den Menschen hier fehlt es an nichts. Sie sitzen auf dem Boden des Ausstellungsgeländes von Port Blair, umgeben von blendend neuen Gegenständen, die auf sie in den letzten zehn Tagen heruntergeregnet sind: Koffer und Taschen, Körbe, Behälter, Schreibzeug, Kleider, Decken, Babyflaschen, Handspiegel, Toilettenzeug. Umso größer ist der Kontrast zum dumpfen Gesichtsausdruck der Flüchtlinge, und selbst Kindern ist kein Lächeln zu entlocken. „Nichts von alldem gehört mir“, sagt George Aberdeen, der die Geste der Barmherzigkeit zu schätzen weiß, die ihm aber wenig Trost gibt. „Dieses T-Shirt, diese Hose, selbst mein Unterhemd sind mir gegeben worden.“
Unter einer Arkade dampft in einem riesigen Behälter weißer Reis, Frauen aus Port Blair geben im Freien Schulunterricht, ein Homöopath bietet auf einem Tisch mit zahllosen sorgsam angeordneten Fläschchen seine Kügelchen an. Doch je mehr sie von Geschenken überhäuft werden, desto mehr prägt sich ihnen ihr plötzlicher Status als Ort- und Landlose ein. Sie wissen, dass sie einmal zurückkehren müssen, auf diese kleine Insel, die plötzlich so verwundbar aussieht im weiten Meer. Sonst wissen sie nur noch dies: „Am Ufer werden wir nie mehr wohnen“, sagt der junge James Lawson. „Nie mehr.“ Wo denn? Er zuckt mit den Achseln und schaut in die Weite.
Sie hören auf die Namen James und Johnson, Donald oder George Aberdeen. Doch die Orte, aus denen sie kommen, heißen Lamalu und Chuckchucha, Kahana und Arong. Die christlichen Namen können die animistische Herkunft dieser Stammesangehörigen nicht verbergen, ebenso wenig wie ihre Gesichter die Einsicht verhüllen, dass von ihren Dörfern nichts mehr übrig ist. Sie kommen von den Nikobaren, jener zu Indien gehörenden Inselkette, die von der Flutwelle am 26. Dezember schwer getroffen wurde. Viele Nikobaris konnten sich an jenem Morgen noch knapp retten, weil das schwere Erdbeben sie aus den Häusern entlang des Ufers trieb und die Welle erblicken ließ, die sich tosend dem Ufer näherte. Die meisten rannten in den Dschungel, wo sie zwei Tage blieben.
Nun sind die Nikobaris, der größte von sechs Urstämmen, in 13 Lagern in Port Blair untergebracht, zusammen mit vertriebenen Siedlern von der Inselgruppe, die fast alle evakuiert worden sind. Das Dutzend bewohnter Inseln im Nikobaren-Archipel zählte vor der Katastrophe gemäß der Volkszählung von 2001 42.000 Einwohner, je zur Hälfte Siedler und Nikobaris. Die offizielle Zahl der Toten und Vermissten liegt bei über 6.400, aber sie stößt auf Skepsis – allein auf der kleinen Insel Katchali liegt die Zahl der Vermissten bei 4.600 Menschen. P. Chandrashekhar, ein Inspektor der Bundespolizei, spricht von 20.000 Opfern – eine Zahl, die vom „Relief Commissioner“ Parul Goel als „Fantasie“ zurückgewiesen wird. Indische Journalisten – ausländische Medien erhalten weiterhin kaum Besucherpässe – erzählen, dass auf der Insel Car Nicobar, wo rund 30.000 Siedler und Nikobaris lebten, fast kein Gebäude mehr steht. Der Schriftsteller Amitav Ghosh, der den kleinen Landstreifen besuchte, fühlt sich an Hiroschima erinnert. Hingegen ist die andere Inselgruppe weitgehend unversehrt geblieben: die Andamanen, wo auch der Hauptort Port Blair liegt.
Irene und James Reuben konnten sich retten, weil hinter dem schmalen Uferband der Urwald in die Höhe steigt. Doch das alte Ehepaar ist nach zwei Wochen immer noch so verstört, dass die beiden eine Viertelstunde brauchen, um sich, mithilfe eines Stücks Papier, der Zahl und der Namen ihrer Kinder zu erinnern. Auf der Zeichnung, die die alte Frau von der Insel anfertigt, ist diese auf einen Punkt geschrumpft, während die früheren Konturen einen weiten Kreis darum bilden.
Für Irene Reuben war es das „Jüngste Gericht“, als sie sah, wie der Sturm die Gräber aufwühlte und „Leichen und Knochen im Wasser trieben“.
Während die rund tausend Nikobaris auf dem Ausstellungsgelände von Port Blair untergebracht sind, sitzen im Nirmala-Schulhaus die Siedler. Es sind Leute aus ganz Indien, die der Staat in den Sechzigerjahren in den dünn bevölkerten Inseln angesiedelt hat, um seinen Anspruch auf die Nikobaren zu untermauern. Noch bevor man sich im Schulhaus umgesehen hat, ist man umringt von Sikh-Bauern und Witwen aus Kerala, die laut ihre Forderungen anbringen. Die alte Siedlermentalität, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, scheint hier wieder erwacht zu sein. Das zeigt sich auch in der Lagerorganisation, von einem Komitee von Insassen geleitet. Über der Schulhausfront hängt eine riesige Leinwand, wo am Abend Filme laufen. Lautsprecher geben zweimal am Tag die Nachrichten von All India Radio durch. Und an einer Pinnwand fordert ein Memorandum an Premierminister Manmohan Singh zur Unterschrift auf.
Doch der Blick geht nicht mehr nach vorn, sondern in Richtung alte Heimat. Der 76 Jahre alte pensionierte Soldat Mahendar Singh wird nach Campbell Bay zurückkehren, doch nur um zu packen. „Ich will in mein Dorf bei Amritsar zurück.“ 1969 hatte ein Schiff ihn mit 14 weiteren Familien auf dieser südlichsten Nikobaren-Insel ausgeladen. Sie hatten den Dschungel gerodet, Kokospalmen, Betelnuss und Gewürze gepflanzt, Teeläden eröffnet, Hindu-, Sikh-, und Christenschreine gebaut. „Wir hatten alles, was du in Delhi bekommst. Nun ist es weg.“ Und was noch übrig geblieben ist, wird wohl von den Holchus – das ist der Name, den die Siedler für die Urstämme haben – gestohlen worden sein. Die vier Jungen, die um den Patriarchen sitzen, hören ihm still zu. Wollen sie, alle in Campbell Bay geboren, dort leben oder auch in eine Heimat zurückkehren, die sie nie gesehen haben? Einer um den anderen antwortet: „Campbell Bay.“ Haben sie nicht Angst, dass nach dem Sturm die Holchus alles weggenommen haben? „Nein“, sagt der elfjährige Satinder. „Wir haben keine Probleme mit ihnen.“ Holchu ist ein Wort der Nikobaris und heißt Freund.
In den Krankenhäusern von Port Blair sind währenddessen, zwei Wochen nach der Katastrophe, immer noch bewegende Geschichten des Überlebens zu hören. Eine Nichtregierungsorganisation namens Umwelt-ANET unterhält an der Südspitze von Great Nicobar eine kleine Forschungsstation zur Beobachtung von Schildkröten und Vögeln. Als das Wasser am 26. Dezember zu steigen begann, filmten Aghue Karen und sein Team das Phänomen. Sie wurden aber rasch von den Wellen in die Flucht getrieben und eingeholt. Ein Banyan-Baum bot ihnen zunächst Schutz, zersplitterte aber unter der Gewalt der Fluten und der umhertreibenden Baumstämme. Alle acht fielen in die brodelnde braune Masse.
Einer der acht ist Aghue, der aus dem Norden Burmas stammt. Er konnte sich an einem Baum festklammern und verbrachte 13 Tage auf dem Wasser, das inzwischen die ganze Südspitze der Insel dem Meer einverleibt hatte. Als er schließlich mit seinem Floß – und zwei ausgerenkten Schultern – an Land paddeln konnte, irrte er drei Tage lang im Dschungel herum, als einzige Nahrung Salzwasser und Betelnüsse. Am Dienstag hat ihn ein Helikopter der Küstenwache entdeckt und nach Port Blair gebracht – völlig erschöpft, mit rot blutenden Augäpfeln, zerbissen von Moskitos und Sandfliegen, mit gebrochenen Rippen und voller Schrunden, aber mit einem intakten Humor: „Zumindest habe ich zahlreiche Tiere beobachten können – Schildkröten, Haifische, Alligatoren, Wasserschlangen. Auch ein Krokodil.“ Obwohl ihm das Sprechen sichtlich Mühe bereitet, beantwortet er geduldig die Fragen seiner Freunde.
Aber niemand im Zimmer des Marinekrankenhauses von Port Blair bringt es übers Herz, Aghues wiederholte Fragen nach dem Verbleib der sieben anderen Mitglieder seines Teams zu beantworten.