: Herde, Horde – wo ist der Unterschied?
Hans W. Korfmann war Hirte auf Kreta. Heute lebt er in Kreuzberg. Hier wie dort traf er auf Geschichten. In der „Kreuzberger Chronik“ schreibt er sie auf
VON WALTRAUD SCHWAB
Dieser Korfmann sitzt im Schraders. Die Kneipe ist im Wedding. Dort hat Korfmann mal gewohnt. Aus seinem Mund ist kein schlechtes Wort über seine Interimsheimat zu hören. In diesem Viertel nämlich hat er die Berliner lieben gelernt. Als er anfing, ihr Leben aufzuschreiben, ist er zum Journalisten geworden. Bis zum Herausgeber der Kreuzberger Chronik, des einzigen Kultblatts eines Berliner Bezirks, hat er es gar gebracht.
Aber so weit ist Korfmann noch längst nicht mit dem Erzählen, weil Korfmann nicht erzählen kann. Er sitzt da in der Kneipe, links von ihm blinkt eine Madonna, und rechts von ihm hängt ein Bild des Gekreuzigten, dem Flügel wachsen, und man fragt sich, wozu, wenn nicht aus einem Zuviel an Fantasie, aber Korfmann verpasst die Chance, sich ins rechte Licht zu setzen.
Es ist nicht so, dass Korfmann nicht redet. Im Gegenteil. Vier Stunden lang geht es um ihn und um sein Leben. Aber immer wenn er meint, mitten in einer Geschichte zu sein, die er als konfliktreich, kompliziert und komplex ankündigt, einer Geschichte von Ziegen zum Beispiel, weil diese Tiere ihm was bedeuten im Leben, also kaum fängt er an, von Ziegen zu reden, hört niemand mehr zu. „Ich meine die Ziegen, das waren schon besondere Tiere. Ich frage mich, wie die Schafhirten ihre Schafe auseinander halten konnten.“ Wo ist der Unterschied? „Anders als Schafe glichen sich die Ziegen nicht“, antwortet er. Korfmann spricht gern im Imperfekt. Als schriebe er das, was er sagt, in Wirklichkeit auf.
Am Imperfekt muss es liegen, dass Korfmann, der nicht Steinbock ist, sondern Fisch, mit seinem Bier in der Hand beim Erzählen einfach davonschwimmt. Deshalb dreht sich das Gespräch im Kreis, und dieser Ex-Weddinger, der heute ein Kreuzberger ist, davor aber Gymnasiast in Bochum war und Aussteiger auf Kreta – „Halt! Ich war kein Aussteiger. Ich war Einsteiger“ – nun gut, er war Einsteiger auf Kreta, und wegen einer Frau soll er auch in Österreich gelebt haben – dieser Korfmann kommt nicht zum Punkt. Das ist der Punkt.
Auf diese Weise lässt sich dann doch was über ihn erfahren. Etwa wenn er, wie an diesem Abend immer wieder, von den Ziegenhirten schwärmt und dass diese wunderbare Erzähler seien. Sie könnten aus einer wahren Begebenheit einen mystischen Faden spinnen, ihn verknoten und drehen und einem spannungsgeladenen Höhepunkt zutreiben. Dann sei man glücklich. „Drei Minuten am Stück erzählten die, und es war nicht langweilig.“ An der Stelle gelingt es Korfmann doch, außergewöhnlich stark zu irritieren, denn drei Minuten, was soll das, wo diese Hirten die ganze Nacht Zeit hatten? „Drei Minuten können lang sein.“
Auch über Ziegen kann man was lernen von Korfmann. Dass die, sobald es hell wird, abhauen. Ein Zaun hindert sie nicht. Dann machen sie sich auf Streifzug und landen direkt in den Weinbergen und Olivenhainen, aber da dürfen sie nicht hin. Deshalb sind Ziegenhirten Athleten. „Berg rauf, Berg runter“, immer den Tieren hinterher, die so schnell springen und frech weglaufen und anatomisch den Menschen weit überlegen sind.
Allmählich wird klar: Korfmann war selbst Ziegenhirte auf Kreta. Nach dem Abitur ist er losgezogen mit fünf anderen. Die Freiheit suchen, sich selbst verwirklichen, Konsumverzicht, einfaches Leben, wie das eben so ging Mitte der 70er-Jahre. Korfmann wollte Schriftsteller werden, weil ihm selber schon aufgefallen war, dass er nicht gut reden kann. Stattdessen ist er Ziegenhirte geworden. Am Ende nannte er eine Herde von 40 Tieren sein Eigen und wohnte zehn Jahre lang an einem Hang in einem Steinhaus. Manchmal auch mit Frau und zwei Kindern.
Es war nicht Korfmanns Plan, Ziegenhirte zu werden, aber bereut hat er es nie. Schriftsteller, die beackern einen unfruchtbareren Boden. „Wahrscheinlich wäre ich immer noch da. Es war wunderschön.“ Warum er nicht geblieben ist? „Das ist eine komplizierte Geschichte.“ Oh, nicht schon wieder! Um es kurz zu machen: Sein Haus wurde angezündet. „Heute denke ich, das ist doch archaisch, den Fremden das Haus anzuzünden.“ Seine Täuschung: Er dachte, er wäre nicht fremd.
Geblieben ist ihm aus jener Zeit, der agile Körper. Wenn er die drei Stufen zum Klo im Schraders hochspringt, als wäre es eine kretische Schlucht, strahlt er die Kraft eines Zehnkämpfers aus. „Heute versuche ich, mit Badminton fit zu bleiben“, gesteht er. „Nach jedem Spiel spüre ich meine Knochen.“ So ist aus diesem Korfmann, der gern mit Stirnband durch die Gegend läuft, was seine Eigenwilligkeit unterstreicht, doch noch ein Stadtmensch geworden.
Es war übrigens in Österreich, wo er zum Stirnband kam. Viel mehr scheint ihm davon nicht geblieben zu sein. Auch die Liebe, die ihn dorthin führte, ist passé. Eine andere Liebe aber – denn Fische schwimmen gern in fremden Gewässern – führte ihn im September 89 nach Berlin. Er kannte die Stadt noch nicht, da war sie schon eine andere.
Die Liebe war das eine. Das andere: dass er in Berlin wieder einen Roman schreiben wollte. Aber Korfmann ist keiner, der nicht flexibel auf die Umstände reagiert. Anstatt Schriftsteller ist er erst mal Hafenarbeiter geworden. Auf dem Bau hat er sich auch verdingt. Oder mitten im Winter Straßen gepflastert, draußen in der Berliner Wildnis. Gut, es gibt hier keine Berge, das Straßenklima aber ist ebenfalls rau.
Irgendwie muss alles wieder wie damals auf Kreta gewesen sein, denn erneut hat sich Korfmann die Geschichten seiner Kollegen angehört. Sie haben ihm gefallen, denn das Herz dieses Mannes strebt den kleinen Leuten zu. In Berlin hat er schnell eine Horde von ihnen zusammengehabt. Den kleinen Herrn Coban mit der spitzen Nase und den freundlichen Augen, den französischen Neapolitaner vom Copyladen, die Bauchtänzerin von der Nordseeküste, den Obdachlosen unter der Kottbusser Brücke, solche Menschen eben. „Kleine Leute haben auch Geschichte. Man kann zeigen, wie schwer sie es haben.“ Herde, Horde – wo ist der Unterschied?
Weil Korfmann schreiben kann, gut schreiben kann, hat er sie alle porträtiert. Nicht nur eins zu eins aufgeschrieben, was die gesagt haben, hat er, sondern ihr Leben eingepackt in Spannung und Höhepunkt und Plot. Etwas Beschwörendes haben seine Texte, wie eine Litanei, wie ein Singsang, der in Trance versetzt. Kein Mensch sei neugierig auf die kleinen Leute, da muss man sie neugierig machen. Korfmann ist ein Könner auf dem Gebiet. Denn wenn er aufschreibt, was er sagen will, wird er doch plötzlich zum Erzähler. Mit viel Liebe enthüllt er dabei den Funken, der selbst in einem verpfuschten Leben noch glüht.
Als Korfmann aufhörte, an den Roman zu glauben, schickte er seine Texte von den kleinen Leuten an die Zeitungen. Die waren begeistert, wollten sie haben. Die Geschichten vom kleinen Mann sind das Gegenstück zur großen Politik. „Als ich anfing, die Porträts zu veröffentlichen, hatte ich den Anspruch etwas bewegen zu können.“ Den Anspruch hat er noch immer, aber er glaubt nicht mehr, dass es noch klappt. Wie dem auch sei, auf diese Weise jedenfalls wurde er zum Berliner Chronisten. „Ich bin kein Chronist“, widerspricht er. Unter solchen stellt er sich so was wie Standesbeamte vor, die Zahlenreihen notieren.
Also gut: Korfmann ist kein Chronist, obwohl er der Herausgeber und fast einzige Autor der Kreuzberger Chronik ist. Monatlich erscheint sie, und mit sicherem Gespür für das Liebenswerte an einer Häuserwand, an einem verrauchten Stück Himmel, an einem überraschten Blick im Gesicht einer Fremden wird von Korfmann, der im Blatt viele Namen hat, das Schöne von Kreuzberg aufgezeichnet. Keine Chronik in Berlin trifft schneller ins Herz der Lesenden als die seine. Der Kohlenhändler, der gerne über Wasser schippert, die Frau im Rollstuhl, die einmal Skirennen fahren sollte, der Fischzüchter, die Friseuse, die Kneipenwirte – für Korfmann sind sie die wahren Helden. Es gelingt ihm, sie so zu beschreiben, dass sie es auch für andere werden.
„Die große Literatur hat immer was mit den kleinen Leuten zu tun“, sagt Korfmann und zählt auf: Hemingway, Gorki, Márquez. So rückt er sich als Schreiber doch endlich in die Nähe der Idole, nur dass dieser Korfmann natürlich noch entdeckt werden muss. Das ist bei Fischen so, aber es ist vergeblich.
Die Kreuzberger Chronik feiert demnächst ihren sechsten Geburtstag. Dazu hat der Verlag an der Spree Korfmanns beste Porträts in dem Sammelband „Kreuzberger“ veröffentlicht. www.kreuzberger-chronik.de