: Kiefers böse Bilder
Die erste Runde bei den Australian Open ist für Nicolas Kiefer auch schon wieder die letzte. Thomas Haas, Rainer Schüttler, Björn Phau und Anna-Lena Grönefeld dürfen hingegen weiter mitspielen
AUS MELBOURNE DORIS HENKEL
Jahrelang hat er hart gearbeitet, um nach oben zu kommen, hat dabei sämtliche Außenplätze von Melbourne bis New York kennen gelernt. Dann war er endlich oben angekommen, aber nach enttäuschenden Resultaten im letzen Jahr ist er im Melbourne Park als Ungesetzter nun doch wieder auf auf die Außenplätze zurückgekehrt. Auf Court 13 fand sich Rainer Schüttler zum Erstrundenspiel der Australian Open wieder, aber er sorgte dafür, dass er beim nächsten Termin aus der Verbannung zurückkehren darf. Obwohl es spielerisch Defizite gab, war Schüttler ausgesprochen erleichtert über den Sieg in drei Sätzen gegen den Franzosen Olivier Petience (7:6, 6:3, 6:2).
Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass er 2004 dreimal in der ersten Runde eines Grand-Slam-Turniers verloren hat, und dass er nach einer Knie-Operation Anfang Dezember noch nicht so stabil in Form ist, wie er es gern wäre. „Ich bin noch nicht zufrieden, aber es wird besser“, sagt er. Das trifft sich gut, denn wenn er morgen gegen Andre Agassi spielt, wird er sich kein durchwachsenes Spiel leisten können. Schüttler gegen Agassi – zurück in die Vergangenheit. Das war vor zwei Jahren das Finale der Australian Open, und obwohl Schüttler an das Spiel an sich und die schnelle Niederlage keine so großartigen Erinnerungen hat, so steht es doch für den größten Erfolg seiner Karriere. Agassi seinerseits zeigte beim klaren Sieg gegen den Münchner Qualifikanten Dieter Kindlmann (6:4, 6:3, 6:0), dass er die Hüftverletzung aus der vergangenen Woche überwunden hat und darüber hinaus, dass er ein Mensch mit bemerkenswerten Umgangsformen ist: Vor dem Spiel stellte er sich bei Kindlmann vor, hinterher bedankte er sich für den Widerstand.
Bei Schüttler muss er sich nicht mehr vorstellen; die beiden haben viermal gegeneinander gespielt, zuletzt im Halbfinale des Masters Cups 2003, als Schüttler einen Satz so spielte wie selten zuvor und nie mehr danach. Er sagt, nach der reduzierten Vorbereitung wegen der Operation spüre er keinen Druck und erwarte nicht zu viel von sich. „Aber vielleicht kann ich mich ja in einen kleinen Rausch reinspielen.“ In diesem Fall wäre ein großer noch besser. Oder ein Auftritt nach dem Muster von Tommy Haas. Der besiegte den belgischen Bekannten Xavier Malisse in sehenswerter Form mit 6:3, 6:2, 6:3.
Siege von Haas, Schüttler und von Björn Phau, der als so genannter Lucky Loser aus der Qualifikation ins Hauptfeld gekommen war, auch von Anna-Lena Grönefeld, aber am Ende des ersten Tages in der Dunkelheit eine bittere Niederlage von Nicolas Kiefer gegen den kleinen Belgier Olivier Rochus (5:7, 6:2, 6:3, 2:6, 3:6), die zweite innerhalb von zwei Wochen. In Melbourne hat für Kiefer schon lange nichts mehr zusammengepasst; sein letzter Sieg bei den Australian Open stammt aus dem Jahr 2001. Diesmal war er in dreieinhalb höchst wechselvollen Stunden zu oft mit sich und seinen Gedanken beschäftigt, um eine stabile Plattform zu finden. Es sei nicht leicht, alles so wegzustecken, meinte er hinterher – wobei dieses „alles“ im letzten halben Jahr wirklich eine Menge umfasst. Zuerst das bittersüße Erlebnis mit der Silbermedaille bei den Olympischen Spielen, das kurze Hoch bei den US Open, mitten im Spiel durch eine Handgelenksverletzung gestoppt, die Schwierigkeiten, danach wieder in Schwung zu kommen, dann die Trennung von seiner langjährigen Freundin. Und schließlich in der vergangenen Woche das beängstigende Erlebnis, aus heiterem Himmel einem flüchtenden, schießenden Mann in die Quere zu kommen und um sein Leben fürchten zu müssen. „Immer, wenn ich allein bin, habe ich die Bilder wieder vor mir“, sagt Kiefer, und dass ihn diese Bilder in der Konzentration stören, ist nicht schwer zu verstehen. Sobald er wieder in Deutschland ist, will er sich um professionelle Hilfe für solche Fälle kümmern. Und sonst? „Schläger in die Hand nehmen und weiter trainieren.“ Was soll er sonst auch tun?