Woyzeck turnt

THEATER Büchners Wut körperlich genommen: Tilmann Köhler inszeniert „Woyzeck“ im Gorki

Mit auf der Bühne: drei Musiker, die das Stück in eine traurige Bluesballade verwandeln

In einem Käfig sitzen wir alle: Woyzeck, die abgerichtete Kreatur; der Doktor, der ihn beobachtet; der Marktschreier, der den Blick auf Woyzeck verkauft wie auf ein rechnendes Pferd. Und das Publikum, das an diesem Abend im Maxim Gorki Theater die Rolle der Schaulustigen auf dem Jahrmarkt einnimmt. Auch für jeden von uns, das suggeriert der langgezogene Käfig, gibt es wohl irgendwo einen Beobachter höherer Ordnung, dem unsere seelischen Zuckungen als Material der Erkenntnis dienen.

Tilmann Köhler hat Büchners „Woyzeck“ als ein Spektakel zwischen Mittelalter und Aufklärung inszeniert. Der Regisseur, geboren 1979, war vor zwei Jahren mit einer Inszenierung aus Weimar, „Krankheit der Jugend“ von Ferdinand Bruckner, zum Theatertreffen eingeladen. Mit einem Ensemble gleichaltriger Schauspieler hatte er einige Stücke auf die Bühne gebracht, die mit ihrem großem Identifikationspotenzial für eine Generation, die mitten im Systemwechsel vom Sozialismus zum Kapitalismus aufgewachsen war, einen Nerv der Zeit trafen.

Auch sein „Woyzeck“ sucht die Verbindung zwischen der Theaterliteratur und Befindlichkeiten heute. Marie (Julischka Eichel), Woyzeck (Michael Klammer) und Andres (Max Fröhlich) sehen bei ihm ein wenig wie Punker aus; und Maries Sätze über ihren aufrechterhaltenen Stolz, aller sozialen Ausgrenzung zum Trotz, stehen dem gut an. Etwas schief ist das Bild dennoch, folgen doch die Punkattitüden heute oft einem verbrämtem Bild des Außenseiters, wohingegen den Figuren Büchners oft gar keine andere Wahl blieb.

Zusammen mit dem Bühnenbildner Karoly Risz hat Tilmann Köhler schon in anderen Inszenierungen ein Raumkonzept genutzt, das die Figuren zu Versuchskaninchen in einem großen sozialen Experiment macht. In dem Stück „Die Höhle vor der Stadt in einem Land mit Nazis und Bäumen“ von Tine Rahel Völcker waren das sowohl die Ordnungsfantasien der Stadtplanung der DDR wie die sozialen Ausgrenzungsprozesse der Bundesrepublik heute. Mit welchen Mitteln der Mensch erzogen werden soll, zu wollen und als moralisches Bedürfnis zu fühlen, was Machterhaltung und Politik in den Kram passt, ist für Köhler schon länger ein Thema.

Der „Woyzeck“ könnte durchaus ein historischer Pate dieser Intentionen sein. Bei Büchner ist der Doktor, der über jede Regung und Bewegung von Woyzeck urteilt, mitverantwortlich für dessen Ängste und Verengung der Wahrnehmung. Aber viel mehr als ein Sympathisieren mit den Opfern bleibt von diesem Ideenhorizont nicht übrig in einer Inszenierung, die Büchners Wut und Witz vor allem mit viel körperlicher Kraft nehmen will. Mitten durch die Zuschauer hetzen die Schauspieler, klettern auf Podeste und springen so oft von 1,50 Meter Höhe herab, dass man um ihre Knöchel und Gelenke fürchtet. Verloren geht so auch das Unheimliche und eben doch nicht rational Erklärbare, das hinter Franz Woyzeck her ist und ihn so hetzt und leiden lässt.

Mit auf der Bühne sind, wie fast immer bei Köhler, drei Musiker für Bass, Trompete und Schlagzeug, die das Stück in eine lange, traurige Bluesballade verwandeln. Ihre Komposition hält zusammen, was an Szenen und Aktionen oft etwas aufgereiht erscheint. So bleibt am Ende mehr der Sound im Ohr als die Sprache Büchners mit ihren so seltsamen Sätzen, die über die kürzestmöglichste Distanz in Bodenlose stürzen. KATRIN BETTINA MÜLLER

Wieder am 3. und 16. Juni