Schillernder als Schindler

Anita Kuglers Buch über das Leben des rätselhaften Fritz Scherwitz liest sich spannend wie ein Krimi. Gleichzeitig ist es eine ebenso faktenreiche wie kundige historische Studie

VON SUSANNE HEIM

Wer war Fritz Scherwitz? Hieß er überhaupt so? Oder Eleke Scherwitz oder gar Eleke Sirewitz? Nichts ist eindeutig an der Biografie dieses Mannes, weder Name noch Geburtsort oder -datum. War er promovierter Ökonom oder Ingenieur oder beinahe ein Analphabet? War er SS-Offizier, Gestapo-Agent oder Judenretter? War er selbst Jude, Freikorpsmann, Sozialist?

Anita Kugler ist Scherwitz’ Lebensgeschichte bis in alle Details nachgegangen und hat versucht, die Widersprüche so weit wie möglich aufzuklären. Die knapp 650 Seiten, die sie mit ihren Ergebnissen gefüllt hat, lesen sich über weite Strecken spannend wie ein Krimi – und werden doch den Anforderungen an eine historische Untersuchung gerecht. Schließlich hat die Autorin mit beachtlichem Erfolg das Gestrüpp aus Gerüchten, Lügen, Anschuldigungen, Hochstapelei oder Teilwahrheiten zumindest streckenweise gelichtet. Und am Ende zeigt sich, dass die Eingangsfrage gar nicht so wichtig ist, wie sie zunächst scheint.

Gesichert scheint immerhin, dass Scherwitz, geboren in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts, als Kind oder Jugendlicher von einem Freikorps adoptiert wurde, dass er der sozialdemokratischen Regierung gegenüber loyal war; dass er später in Berlin Frau und Tochter hatte und beide bald im Stich ließ. 1941 gelangte er ins deutsch besetzte Riga und wurde dort Leiter eines KZ-Außenlagers, in dem jüdische Handwerker für die SS maßgeschneiderte Uniformen oder Stiefel anfertigten, Luxusgüter produzierten oder Wohnungen umbauten.

Als die deutschen Besatzer Ende 1941 die meisten Ghettobewohner ermordeten, gelang es Scherwitz, „seine“ jüdischen HandwerkerInnen und einige Angehörige zu schützen, indem er sie dauerhaft in den Werkstätten unterbrachte. Nach dem Umzug in die alte Textilfabrik Lenta außerhalb der Stadt, die als Nebenlager des KZ Kaiserwald geführt wurde, wuchs die Zahl seiner Untergebenen auf mehrere hundert. Verglichen mit anderen KZ-Häftlingen ging es ihnen gut. Es gab keine Schikanen, sie hatten genügend zu essen und wurden von Scherwitz sehr höflich behandelt.

Viele seiner Schützlinge berichten von wahren Heldentaten, die Scherwitz für sie beging. Immer wieder sei es ihm gelungen, zu verhindern, dass bei Razzien oder Kontrollen jemand verhaftet wurde. Und dies, obwohl Scherwitz selbst in einer heiklen Lage war, galt er doch dem Sicherheitsdienst der SS als unzuverlässig und „judenfreundlich“. Ihm wurde ein SS-Unterführer beigeordnet, der aufpassen sollte, dass es den Juden auf der Lenta nicht zu gut ging; sein oberster Chef war der tausendfache Judenmörder Rudolf Lange.

Neben allen Lobeshymnen gibt es aber auch Beschuldigungen gegen Scherwitz. Manchmal stammen sie von denselben Leuten, die ihn bei anderer Gelegenheit als ihren Schutzengel bezeichneten. Sie werfen ihm Bestechlichkeit vor. Auch soll er einen oder mehrere Häftlinge nach einem gescheiterten Fluchtversuch hingerichtet haben. Die belastenden Aussagen sind widersprüchlich, mitunter fadenscheinig.

Durchaus plausibel scheint allerdings, dass Scherwitz nicht immer alle ihm unterstellten Häftlinge schützen konnte. Als die KZ-Verwaltung ihn aufforderte, hunderte Menschen in den sicheren Tod zu schicken, kommandierte Scherwitz sie ab. Ungeklärt ist jedoch, ob er wirklich selbst selektierte oder anhand von vorgefertigten Listen vorging.

Nach dem Krieg lässt sich Scherwitz in der bayerischen Provinz nieder. In einem Milieu von mehr oder minder verkappten Antisemiten, ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und Mitläufern präsentiert sich Scherwitz als Jude und KZ- Überlebender. Man glaubt ihm, nicht zuletzt aus eigenem schlechtem Gewissen und weil man sich von guten Beziehungen zu einem Juden Vorteile verspricht, zumal wenn dieser auch noch rasch zum Treuhänder für beschlagnahmtes Nazi-Vermögen avanciert. Scherwitz lebt auf großem Fuß, bereichert sich auch an Treuhandvermögen. Er nutzt seinen Einfluss zugunsten von Flüchtlingen und Überlebenden, vor allem aber, um die örtlichen Altnazis in Bedrängnis zu bringen. Folglich wächst die Schar seiner Feinde und Neider rasch. Doch zum Verhängnis werden ihm ausgerechnet die ehemaligen Schützlinge. Dass ihr Ex-Aufseher, der auf der Lenta SS-Uniform trug, sich nun als überlebender Jude ausgibt, ist mehr, als sie ertragen können.

Im März 1949 wird Scherwitz zu sechs Jahren Haft verurteilt. Im Prozess gegen ihn formiert sich eine unheilige Allianz aus Altnazis und Überlebenden. Beide wollen sich rächen, die einen für die als ungerecht empfundene Entnazifizierung, die anderen für den Tod ihrer Angehörigen und ihr eigenes Verfolgtenschicksal. Dass er Jude sei, ist zwar letztlich nicht erwiesen, wird ihm aber als strafverschärfend ausgelegt: Er habe, so heißt es in der Urteilsbegründung in Bezug auf die vermeintliche Hinrichtung, besonders verwerflich gehandelt, indem er „Rassegenossen“ ermordet habe.

Scherwitz hat um die Wiederaufnahme des Verfahrens und um vorzeitige Haftentlassung gekämpft. Doch bis auf sechs Monate muss er seine Strafe absitzen – und damit mehr als so mancher vielfache Mörder. Anfang der 50er-Jahre ist eben längst der Kalte Krieg ausgebrochen und mit ihm die Milde gegenüber den hochkarätigen NS-Tätern. Umso unerbittlicher trifft die Härte des Gesetzes Scherwitz, der die gängige Täterausrede vom Befehlsnotstand Lügen straft. Zudem zieht er als vermeintlicher Jude in SS-Uniform die antisemitischen Vorurteile ebenso auf sich wie die Rache der Überlebenden.

Scherwitz verlässt das Gefängnis als gebrochener Mann. Den Rest seines Lebens, es sind noch acht Jahre, bringt er mit Rehabilitierungsversuchen zu und damit, seine Ausweisung zu verhindern. Denn nach einer seiner diversen Biografien ist er als gebürtiger Litauer staatenlos – und damit nach seiner Haftstrafe ein im Nachkriegsdeutschland unerwünschter Ausländer.

Doch die Aufklärung von Scherwitz’ verworrener Biografie ist nur ein Verdienst Anita Kuglers. Lesenswert ist das Buch vor allem, weil es ihr gelungen ist, die verschiedenen Milieus sensibel und akribisch zu skizzieren, in denen jemand wie Scherwitz reüssieren konnte – und letztlich abstürzte. Er war ein Mann, so einer der Zeitzeugen, gegen den Schindler ein Waisenknabe gewesen sei.

Anita Kugler: „Scherwitz. Der jüdische SS-Offizier“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004, 768 Seiten, 29,90 Euro