: „Das ist unser Familienerbe“
Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz befreit. Taugt dieses Datum als Gedenktag? Ein Gespräch über falsches Erinnern und richtiges Vergessen mit Aleida Assmann und Harald Welzer
INTERVIEW VON STEFAN REINECKE und JAN FEDDERSEN
taz.mag: Der 27. Januar ist seit neun Jahren der offizielle deutsche Gedenktag, der an die Befreiung von Auschwitz erinnern soll. Funktioniert dieser Tag?
Harald Welzer: Nein. Ich war kürzlich auf einer Fachtagung für Gedenkstätten. Da wurde diskutiert, warum Deutsche keinen vernünftigen Feiertag haben. Der 3. Oktober taugt nicht, weil ihm das sinnliche Moment fehlt, und der 9. November ist ambivalent. Der 27. Januar wurde interessanterweise gar nicht erwähnt. Sogar das Fachpublikum hatte dieses Datum nicht auf der Agenda. Meine Mutter wüsste jedenfalls nicht, was der 27. Januar bedeutet.
Aleida Assmann: Die Medien achten darauf, im Bundestag werden Reden gehalten. Aber es fehlt das Persönliche. Zu Auschwitz haben die Deutschen kaum persönlichen Bezug.
Ist es eine Lösung, den 27. Januar zu einem arbeitsfreien Feiertag zu machen? Das ist für die Deutschen ja offenbar die Währung, die zählt.
Assmann: Nein, ich glaube nicht. Die Debatte, ob am 3. Oktober doch gearbeitet werden soll, hat doch gezeigt, dass bei uns alle Symbole verhandelbar sind. Es gibt bei uns einfach kein unumstrittenes Datum, an dem sich die Nation ihrer selbst erinnert – wie in Frankreich oder den USA. Dort gibt es eine Art Magie des Kalenders, ein Datum, das so eng mit Geschichte verknüpft ist, dass ein Wir entsteht, in dem sich jeder wiederfinden kann.
Wäre das bei uns nicht doch der 9. November – gerade weil er die Ambivalenzen deutscher Geschichte spiegelt?
Assmann: Richtig ist, dass es an diesem Datum für verschiedene Generationen existenzielle, persönliche Bezüge zur großen Geschichte gibt. Aber: Viele wissen nicht mehr, dass der 9. November der höchste Feiertag des NS-Regimes war, an dem die Nazis die Erinnerung an die Toten des Putschversuches 1923 beschworen. Das schafft Hemmschwellen. Was passiert, wenn sich das überlagert? Knüpfen wir damit nicht positiv an Dinge an, die wir hinter uns lassen wollen?
Der 27. Januar ist in der Gesellschaft nicht angekommen – das zeigt, dass offizielles und privates Erinnern stark auseinander fallen. Wie sehen Sie momentan diese Beziehung?
Welzer: Das offizielle ist auf dem Rückzug.
Wieso?
Welzer: Im Zentrum der offiziellen Erinnerungskultur steht Auschwitz, in dem der privaten Erinnerungskultur stehen Kriegserfahrung, eigenes Leid, Opferschaft. Bemerkenswert, dass die offizielle Kultur sich bis heute gegen das private Gegen-Erinnern behauptet hat. Genau das verändert sich. Es gibt in Filmen und Romanen deutsche Opfererzählungen.
Welche? Uwe Timms Buch über seinen Bruder, der im Osten gefallen ist?
Welzer: Uwe Timm ist noch der harmloseste Fall. Familienromane haben Konjunktur – von Ulla Hahn bis Reinhard Jirgl, von Wiebke Bruhns’ Buch bis zum Buch der Mutter von Uwe Ochsenknecht. Der private Zugriff ist neuerdings sehr erfolgreich. Die Verkaufszahlen sind enorm. So diffundiert die gefühlte Geschichte in den erinnerungskulturellen Raum.
Und was ist daran falsch?
Welzer: Mit der verstärkten Thematisierung deutscher Opferschaft tauchen Motive aus den Fünfzigern wieder auf, etwa dass man von Hitler verführt wurde. Das gibt es heute wieder – zwar mit kritischer Überschrift versehen, aber so ähnlich.
Wir bekommen die Fünfziger mit neuer Überschrift wieder? Steile These.
Welzer: So plakativ würde ich es auch nicht sagen.
Assmann: Es geht um etwas anderes. In den Fünfzigerjahren gab es die privaten Familiengeschichten, verbal tradiert, auf der Ebene der Stammtische. Da wurde von Flucht, Entbehrung, Hunger und den Bombennächten erzählt. Das war keineswegs tabu. Das war eine Art Dauerplatte, immer die gleichen Geschichten mit denselben Anekdoten und Schlagworten. Verschwiegen wurden die Vergewaltigungen – die waren viel zu schambesetzt. Das weiß ich aus meiner eigenen Familie. Als Kind hat man ja auch die Lücken in den Erzählungen mitbekommen. Heute gibt es diese lebendige Erinnerungsgemeinschaft, die nach dem Krieg existierte, nicht mehr. Was jetzt wieder kommt, ist etwas anderes: Die zweite Generation, also die heute etwa Sechzigjährigen, versuchen, ihren Platz in dieser Familienerzählung zu finden. Damals waren sie nicht die Akteure des Familiendiskurses. Sie haben zugehört. Die Erinnerungsliteratur ist ja auch ein Versuch, aus dem eigenen Familiengedächtnis, das in ihnen wie eine Platte weiterläuft, herauszukommen.
So wie Stephan Wackwitz’ Roman „Ein unsichtbares Land“, der die Delegation in seiner Familie überprüft.
Assmann: Wackwitz versucht, sich über den Großvater in eine langfristige Geschichte einzuschreiben. Er merkt: „Ich bin nicht nur ich, ich gehöre in einen größeren Zusammenhang. Um meinen Platz in der Geschichte zu finden, befasse ich mich mit Erinnerungs- und Familiendokumenten.“ Das ist eine Suche nach einer Identität, die die Eltern und Großeltern einschließt. So entstehen neue Kreuzungspunkte zwischen eigener Biografie, Familiengeschichte und Historie. Man findet über die Familie ein neues Interesse an Geschichte.
Gut. Aber warum jetzt?
Assmann: Weil die Menschen, die in der NS-Zeit erwachsen waren, tot sind, und jene, die damals Kinder waren, sich heute erinnern und dies literarisch reflektieren. Das ist ein völlig neuer Aggregatzustand von Erinnerung. Die Formen sind verschieden. Manches, wie Jirgls „Die Unvollendeten“, ist Literatur, anderes, wie Wiebke Bruhns’ „Meines Vaters Land“, Geschichtsforschung, anderes sind Selbsterfahrungstexte …
… oder wissenschaftliche Untersuchungen wie „Opa war kein Nazi“ von Ihnen, Herr Welzer.
Welzer: Ja, wir sind unabsichtlich selbst Teil dieses Phänomens geworden. Wir haben ein Projekt über Familienerinnerung und NS-Zeit initiiert – kaum sind wir fertig, erscheinen plötzlich viele Generationsromane. Ein Grund für diesen Boom ist wohl, dass die Erlebnisgeneration stirbt. Damit wird Erinnerung freier verfügbar. Sie ist nicht mehr an eine Lebenserfahrung gebunden. Der Vater, der bislang die Geschichte repräsentiert hat, ist weg. Nun kann man aus der Perspektive der eigenen Generation eher tun, was Sinn hat.
Herr Welzer, Sie haben beschrieben, wie private Erinnerung derzeit ins Öffentliche strömt. Und umgekehrt? Wie wirkt der öffentlichen Diskurs, der um Auschwitz kreist, auf Familiengedächtnisse?
Welzer: Bei den Älteren etwa als Hinweis auf Erinnerungskonflikte wie die Wehrmachtsausstellung. Bei Kriegserzählungen fällt häufig der Satz: „Da mag ja was gewesen sein, aber bei uns nicht.“ Wir haben in unserer Studie herausgefunden, dass es bei der dritten Generation eine massive Einwirkung des offiziellen auf das private Bewusstsein gibt. Es wird anerkannt, dass der Holocaust das grauenhafteste Verbrechen der Menschheitsgeschichte war. Und es gibt das Bewusstsein, dass die Lebenszeit meiner Angehörigen sich mit der historischen Zeit des Grauens deckt. Daraus folgt die Konstruktion des „guten Opas“, der als Einziger in diesem Grauen Widerständler war. Wir haben es mit einem Aufklärungseffekt tun, der sich paradox niederschlägt.
Assmann: Ich finde, man muss zwischen dem Gespräch am Familientisch und der Erinnerungsliteratur unterscheiden. Die Literatur vom Krieg arbeitet sich an Zweifeln und Unsicherheiten ab, daran, wo es komplex, kompliziert und kritisch wird. Am Familientisch ist das primäre Interesse die Harmonisierung – man schützt den anderen und damit sich selbst. Die Familie steht unter einem starken Konsensdruck – vor allem wenn, wie bei Ihrer Studie, jemand von außen dabei ist. Vielleicht sind die Gespräche ohne Sie ja weniger harmonisch. Manche haben sich ja geweigert, bei Ihrem Projekt mitzuwirken, weil sie wussten, dass Sie explodieren würden. Es gibt ja eine Scham, sich vor einem Dritten zu exponieren. Schon deshalb brauchen wir auch Literatur als Material.
Welzer: Na, das sehe ich anders. Das Bedürfnis, den guten Opa zu haben, existiert auch ohne Zwang zum Familienkonsens. Sie stoßen in allen Diskursen auf die gleichen Schlagworte: „Mein Vater war irgendwo im Osten, hat da aber nichts gemacht.“ Das kommt immer als Nebensatz. Bei den Romanen findet man oft das Muster: Jemand wird verdächtigt, Nazi gewesen zu sein, aber die Recherche ergibt, dass dies falsch war.
Assmann: Ja, aber oft ist der Plot auch das Familiengeheimnis. Da ist der Anstoß für die Suche nach der Leerstelle, die man erst mal erkennen muss, um sie zu füllen. Diesen Plot gibt es zum Beispiel in Tanja Dückers’ „Himmelskörper“. Es ist die kriminalistische Suche nach dem, was in der Familie ausgespart wurde. Und das geht nur in unbeachteten Augenblicken. Wenn der Großvater über ein Bienenvolk spricht, aber den NS-Staat meint. Wenn die Großmutter Alzheimer bekommt und ein bisschen plappert. Dann wird das Verschwiegene sichtbar, das durch direkte Fragen nie auf den Tisch gekommen wäre.
Konkurrieren Darstellungen deutschen Leids, etwa Jörg Friedrichs’ Buch „Der Brand“, mit der Holocaust-Erinnerung? Oder sind es Ergänzungen?
Welzer: Konkurrenz. Friedrich nutzt ja demonstrativ Begriffe, mit denen der Holocaust beschrieben wird. Da wird der Bombenkrieg zu einer sich in Spiralen bewegende Vernichtungsgeschichte mit der entsprechenden Terminologie. Die Frage ist nun, ob diese Erzählungen in einem Gleichwertigkeitsverhältnis bleiben. Geht an der Holocaust-Erzählung etwas verloren, wenn deutsche Leidensgeschichten populär werden? Das kann man in Echtzeit gar nicht prüfen. Trotzdem fürchte ich, dass es so ist: Denn die Holocaust-Erzählung sitzt nicht wirklich tief. Sie ist nicht verinnerlicht worden, nicht Teil der gefühlten Geschichte. Man sagt „Wir bekennen und gedenken“, aber auf der gefühlten Ebene fehlt es.
Das erinnert an eine falsche Erzählung der Linken über die Bundesrepublik: Unter dem dünnen Firnis von Demokratie und Gedenken tobe der Faschismus. Ist das nicht schon seit langem eine Täuschung?
Welzer: Also, eine verbal geäußerte Einstellung und was die Leute wirklich denken, ist nicht das Gleiche. Je nach Situation ist diese Diskrepanz mal stark, mal weniger stark. Interessant ist, dass es an dem neuralgischsten Punkt dieser Republik, der Erinnerung, eine auffällige Diskrepanz gibt. Das ist unbestreitbar. Ich würde aber einräumen, dass diese Diskrepanz Amplituden hat. Sie ist nicht immer gleich. Es kann sein, dass die aktuelle deutsche Leidenserzählung eine Reaktionsbildung auf ein Zuviel der anderen Erzählung ist.
Assmann: Ich glaube, es gibt einen regelrechten Wettbewerb zwischen diesen Erzählungen. Ich habe neulich die Kritik von Hannes Heer über den „Brand“ gelesen – und dabei ist mir aufgefallen, dass Heer und Friedrich zueinander passen. Hannes Heer hat mit seiner Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ maßgeblich die Gedächtniskultur der Neunzigerjahre beeinflusst – Jörg Friedrich beeinflusst das Klima des Erinnerns nach 2000. Sie sind wie konvex und konkav. Der eine ist Advokat deutscher Schuld, der andere Advokat deutschen Leidens. Und sie sind beide Historiker, die versuchen, über ihre Disziplin hinaus zu wirken und die Herzen der Menschen zu erreichen. Beim „Brand“ kann man sagen, dass die Sprache selbst zündelt. Durch die dem Holocaust-Diskurs entlehnten Stichworte wird suggeriert, dass in Deutschland der eigentliche Holocaust stattgefunden hat. Das ist ein gewisser Enteignungsdiskurs.
Hat Hannes Heer Recht mit seiner Kritik an Jörg Friedrich?
Assmann: Nein, es ist komplizierter. Ich finde die Front – deutsches Leid gegen Holocaust – falsch. Deshalb ist auch die Familiengenerationsliteratur so wichtig, denn dort geht es sowohl um Leid als auch um Schuld. Ich glaube auch, anders als Herr Welzer, dass die Holocaust-Erinnerung schon verankert ist. Wir haben ja immer gesagt, das ist bloß oberflächlich, es hat keinen familiären Erfahrungsbezug. Aber wir müssen auch sehen, dass es nach 1968, also in meiner Generation, eine Phase der Überempathie gab …
… als ganze Kinderläden fast nur aus Sarahs und Davids bestanden …
Assmann: Ja, die ganze Überidentifikation mit Juden und jüdischer Tradition. In der Germanistik konnte man nur noch Walter Benjamin lesen. Das war der Versuch, sich mit den Opfern zu identifizieren.
Muss uns die Tatsache, dass sich die Deutschen als Opfer entdecken, wirklich beunruhigen? Es kann doch sein, dass Deutsche nur dann zur Empathie mit jüdischen Opfern fähig sind, wenn sie sich von ihren eigenen Erinnerungen nicht abgeschnitten haben?
Welzer: Empirisch spricht nichts dafür. Sind Nationen ohne Nazizeit zu mehr Empathie zu Ruanda fähig als die Deutschen? Kaum. Das ist ein trügerischer Analogieschluss zwischen individualpsychologischen Erfahrungen und kollektiven Prozessen.
Assmann: Was ist denn Erinnerung? Sie ist an unmittelbare Erfahrung gebunden. Deshalb ist sie eingeschränkt auf den Erfahrungshorizont. Bei Flucht und Vertreibung der Deutschen ist das zu beobachten. Jenen, die vertrieben wurden, war nicht bewusst, dass dies eine Episode in einer Kette von historischen Ereignissen war. Erinnerung schottet sich ab, sie ist kleinteilig. Deshalb brauchen wir historisches Bewusstsein. Wir brauchen zu den atomisierenden Episoden der Erinnerung das größere Tableau. Nur dann kann man auch die eigene Blindheit erkennen, dass wir mit dem Erinnern immer etwas vergessen.
Welzer: Interessant. Auch beim 27. Januar hat man ja den Eindruck, dass Erinnern an sich gut sei. Wer „Wir erinnern uns“ sagt, suggeriert, dass er zu den Guten gehört. Warum aber ist ein Erinnern per se besser als ein Vergessen? Hat man schon eine politische Handlung vollzogen, wenn man sagt, man erinnert sich? Das ist doch eine Illusion.
Der Erinnerungszwang als Zeichen für eine Krise? Könnte ein Vergessen gesünder sein?
Welzer: Kommt drauf an. Bestimmte Phasen des „erst mal vergessen“ sind nötig. Aber man muss schon fragen: Was soll die Erinnerung? Wohin wollen wir damit? Wozu dient das?
Assmann: Es gibt kein Erinnern ohne Affekt, ohne Emotion. Wenn wir fragen: Ist Erinnern gut?, fragen wir: Sind die Gefühle gut? Wenn es um Rache und Hass geht, dann kann Erinnerung höchst gefährlich sein. Therapeutisch ist es besser, darüber hinwegzukommen. Deshalb hat Freud sein Erinnerungsprojekt als Erinnerungsliquidierungsprojekt aufgezogen. Die Sprache sollte helfen, Erinnerung so zu verflüssigen, dass der Albtraum endet. Also eine Rationalisierungsaufhellung. Freud wäre wahrscheinlich entsetzt, wenn er diese memorymania betrachten würde, die ja nicht nur in Deutschland herrscht, sondern in der ganzen westlichen Welt.
Woher kommt das? Ist die Erinnerungssuche eine Reaktion darauf, dass sich die westlichen Gesellschaften als wurzellos empfinden?
Assmann: Ja. Die Erinnerungsmanie kompensiert verlorene Traditionen und einen verschwundenen eindeutigen Geschichtsbezug. Aber zu der Frage, ob ein Vergessen besser ist: Im antiken Athen gab es das Gesetz, dass nach Bürgerkriegen nicht mehr von ihnen die Rede sein sollte. Ein sehr weises Gesetz. Denn Bürgerkriegssituationen neigen dazu, sich immer weiter selbst zu reproduzieren, nicht enden zu können. Vergessen kann also den zerstörerischen Mechanismus stoppen. Im Westfälischen Frieden steht „Oblivio perpetua et amnestia“: Wir vergessen alles, wir fangen neu an. Solche Versöhnungsrituale sind nötig. Aber: Die Lage nach dem Holocaust war anders als 1648. Denn es gab eine extreme Asymmetrie von Tätern und Opfern. Deshalb können wir nicht zustimmen, wenn gefordert wird: „Es muss jetzt vergessen werden.“ Meiner Meinung nach steht es den Nachfahren der Täter nicht an, das zu sagen. Nicht, solange die Opfer sich noch so gut erinnern.
Das ist ja eine paradoxe Botschaft – die das, was vergessen werden soll, immer selbst zur Sprache bringt.
Welzer: Das ist klar. Trotzdem: Wenn die Täter das Erinnerungsparadigma der Opfer übernehmen, kann das eine ziemlich simple, wohlfeile Anschmiegung sein. Erinnern ist ein politisches Auseinandersetzungsfeld par excellence, vielleicht das wichtigste. Wer definiert die richtige Erinnerung – darum geht es. Dieser Kampf wird eher schärfer. Erinnerung ist nicht auf dem Rückzug – sondern auf dem Vormarsch. Erinnerung gilt als Wert an sich und wird immer mehr zur Obsession. Das finde ich eher beängstigend.
Auf dem Vormarsch – wirklich? Erinnerung war eine Parole der zweiten Postnazigeneration, gegen die Eltern. Sie hat gegen deren Schweigen ihr „Hört auf zu verdrängen“ gesetzt …
Welzer: Nein. Den Achtundsechzigern ging es um Anklage zu Zwecken der eigenen Positionierung. Um eine richtige Lesart der Geschichte, nicht um Erinnerung.
Assmann: Das ist richtig – aber nur an der Oberfläche. Die Revolte von 1968 hat in den Familien und den Institutionen einen Riss in der Kontinuität markiert. Die Kinder haben die Eltern angeklagt – und sie damit erst recht zum Schweigen gebracht. Und nun? Jetzt sehen wir, dass die Eltern erst sterben mussten, damit die Kinder, die heute sechzig sind, diese Vaterliteratur schreiben können, in der sie den Vater mit Du anreden. Das ist der Versuch, den Generationendialog, den es nicht gab, zeitverschoben in ein Selbstgespräch zu transformieren. Der Adressat ist weg. Das ermöglicht diese Bücher, die deshalb aber auch immer davon bedroht sind, dass dieser Versuch übermächtig und hypertroph wird. Früher hat man geschwiegen und den Dialog verweigert – deshalb muss man sich jetzt allein besonders verausgaben.
Wann begann dieser neue Blick der Achtundsechziger auf die Eltern?
Assmann: Mit Bernhard Schlinks Buch „Der Vorleser“ – da wird zum ersten Mal die Verstrickung der zweiten Generation thematisiert. Damit wurde die erste Phase – das Tribunal über die Eltern – verabschiedet. Die dritte Phase symbolisiert so jemand wie die Vertriebenenfunktionärin Erika Steinbach. Sie übernimmt das Anliegen ihrer Eltern, sie ist ihre Statthalterin. Es gibt auch weniger drastische Beispiele. Etwa Uwe Timm, der ein einfühlsames Buch über seinen Bruder geschrieben hat, der an der Ostfront gefallen ist. Man sieht: Der Furor von früher ist weg, jetzt am Schluss stehen die Tränen im Mittelpunkt. Und was früher war, wird abgetrennt.
Welzer: Ist „abtrennen“ die richtige Beschreibung? Ich finde, dahinter steht eine zu einfache Idee, wie eine ordentliche Biografie auszusehen hat. Ich glaube nicht, dass die Achtundsechziger von der Konfrontation in der Jugend zur Affirmation im Alter übergegangen sind. Es ist widersprüchlicher. Diese neue Anschmiegsamkeit an die Generation der Akteure im Dritten Reich zeigt, dass diese Affirmation schon früher da war. Sie kommt jetzt nur direkt zum Ausdruck.
Und früher?
Welzer: Man kann doch die Straßenschlachten der Achtundsechziger als nachgeholte Kriegserfahrung deuten. In ihrem nachgeholten Widerstand war doch auch etwas Affirmatives: Man erledigt das, was die Eltern versäumt haben. Die Eltern- und die Kindergeneration hatten viel mehr gemeinsam, als früher zu sehen war.
Assmann: Ja, da ist etwas dran. Aber wenn man sich Wackwitz’ Buch anschaut, entdeckt man auch eine Reifung. Das Abwägen, die Fähigkeit zur Ambivalenz zeigen einen Achtundsechziger, der aus dem polaren Denken, das sehr radikal und gewalttätig ist, herausgekommen ist und einen reifen Relativismus vertritt. Wackwitz hat diese Fähigkeit bei Richard Rorty und dem amerikanischen Pragmatismus gelernt, der ihn von diesem Richtig-falsch-Muster befreit hat. Dieses Muster war ein Teil des Krieges des 20. Jahrhunderts, der, wie manche sagen, von 1914 bis 1989 gedauert und stets Feinderklärungen produziert hat. Wackwitz’ Buch über seinen Großvater zeigt, dass langfristige Wandlungsprozesse von Mentalitäten, hin zum Pragmatischen möglich sind.
Welzer: Aber man muss auch auf die Grenzen des Generationenverhältnisses schauen. Und da finde ich das Buch von Wiebke Bruhns interessant. Es ist ja ein hochreflexives Unternehmen, das nicht nur ihren Vater beleuchtet, sondern mit spannendem Material aus dem Familienarchiv arbeitet und die Geschichte des NS nicht 1933, sondern 1900 beginnt lässt. Trotz dieses reflexiven Vermögens gibt es einen blinden Fleck: Ihr Vater war durch seine Arbeit im KZ Nordhausen an der Vernichtung beteiligt. Bruhns nimmt dazu die typische Tochterperspektive ein, wenn sie fragt: Wie konnte er tagsüber im KZ arbeiten und abends zur Familie kommen und mit uns spielen? Wie hat er das verarbeitet?
Was ist falsch an der Frage?
Welzer: Na ja, falsch – es ist Bruhns’ Konstruktion, um sich selbst die harte Wahrheit nicht zumuten zu müssen: Es war ihm egal. Es spielte für ihn einfach keine Rolle. Dieses Phänomen gibt es oft bei der intergenerationellen Verarbeitung – die Stelle, an der die Reflexion endet. Es gibt immer eine Grenze, an der die Notwendigkeit von eigener Identitätsarbeit und subkutaner Tradierung dazu führt, dass man nicht mehr weiter denken kann.
Assmann: Das stimmt. Bruhns kann sich nicht vorstellen, dass ihr Vater nicht so sensibel war, wie sie selbst es ist. Deshalb verlängert sie ihr Ich auf ihn. Das ist ein Mangel an historischer Reflexivität. Wir wissen ja aus den Interviews, die der US-Wissenschaftler Saul K. Padova 1945 gemacht hat, wie es in den Köpfen der Deutschen aussah. Sie haben vieles ausgeblendet. Menschen können ungeheuer viel von sich fern halten. Der Mechanismus der Einengung der Aufmerksamkeit funktionierte perfekt. Und hinterher konnten sie sich an nichts mehr erinnern …
Welzer: … das geht noch über die individuelle Wahrnehmung hinaus. Offenbar gab es einen gesellschaftlichen Konsens über die Wirklichkeit. Zeitzeugen versichern ja bis heute, dass sie nie etwas von der Judenverfolgung mitbekommen hätten – obwohl an x Ortsschildern stand: „Dieser Ort ist judenfrei“. Das Geheimnis ist, dass die Verfolgung der Juden im Alltag aufgehoben war. Es war selbstverständlich – deshalb kann man sich nicht erinnern, was auf dem Ortsschild stand, an dem man jeden Tag vorbeifuhr. Es geht also nicht um Ausblendung, sondern um ein Wahrnehmungstableau, in dem man sich vollkommen selbstverständlich bewegt. Deshalb hat sich nach 1945 auch niemand schuldig gefühlt. Keiner hatte das Gefühl, normabweichend gewesen zu sein.
Assmann: Der Mensch ist eben ein Anpassungswesen, das sich auf das System einstellt, in dem es lebt und funktioniert. Um sich selbst überhaupt anders wahrnehmen zu können, braucht man einen Normenwandel. Das haben die Alliierten nach 1945 mit der re-education versucht. Bei der Elterngeneration hat das nur in Ausnahmefällen zu wirklichen Wandlungen geführt. Der Effekt war: Ihre Wahrnehmung blieb die gleiche, aber sie verstanden, dass man sich öffentlich nicht mehr äußern durfte – nur noch zu Hause.
Wie haben Sie, Frau Assmann, Ihre Jugend und Familie in Bezug auf die NS-Vergangenheit erlebt?
Assmann: Ich finde es faszinierend, was man da alles noch in sich drin trägt. „Bis zur Vergasung“ war eine völlig gebräuchliche Formel, die ich mit zehn Jahren unbefangen auf dem Schulhof benutzt habe. Sie hat, habe ich mir sagen lassen, nichts mit der Judenvergasung zu tun, es gibt sie seit 1915, als Giftgas im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurde. Aber man fing an zu fragen: Was sage ich hier eigentlich? Wer spricht durch mich? Oder die Worte „am Boden zerstört“. Das war die Formel, mit der die Kriegsmeldungen abschlossen, wenn die Nazis von Siegen berichteten. Das wusste ich damals nicht, aber es war Teil unserer Sprache.
Welzer: Es ging aber nicht nur um verbale Relikte. Es waren auch Verhaltensweisen gegenüber Nichtdeutschen. In dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, gab es eine Siedlung, die hieß die Polackensiedlung. Da ging man nicht hin. Das war einfach so. Das erreichte gar keine Reflexionsstufe. Das war in der Praxis aufgehoben. So etwas ist auch sozial vererbbar – und resistent. Was verbal geschieht – okay, das kann man später durch Reflexion abbauen.
Assman: Ein Erbe war auch die Kindererziehung – dass die Eltern den Kindern Härten zufügen müssen, weil ihnen das angeblich gut tut. Daher tagelanges Schweigen wegen irgendwelcher kleiner Vergehen oder dieses permanente Hauen. Das kam nicht nur aus der NS-Zeit, aber auch. Das hat die Achtundsechziger stark geprägt.
Aber die Erziehung hat sich doch verändert. Kinder zu schlagen ist völlig illegitim …
Welzer: Ja, klar gibt es wesentliche kulturelle Änderungen. Aber es ist auch richtig, dass wir noch immer nicht wissen, wie wir mit der NS-Zeit umgehen sollen. Ein Beispiel war die Debatte um den Anti-Graffiti-Anstrich von der Degussa fürs Holocaust-Mahnmal.
Weshalb?
Welzer: Weil sie zeigte, wie komplett unklar unser Verhältnis zur NS-Zeit ist. Der Anti-Graffiti-Anstrich für die Stelen stammte von einer Firma, die früher an NS-Verbrechen beteiligt war. Eine Nazifirma, die jetzt an dem Musterschülerbeispiel der Vergangenheitsbewältigung mitwirkt. Das erzeugte eine ungeheure Verspannung. Warum? Weil es im Hintergrund die Idee gibt, dass es in Deutschland Holocaust-freie Räume gibt. Und wenn wir uns ganz doll anstrengen, finden wir die Firma, die gar nichts damit zu tun hat oder hatte. Das ist der Wunsch und gleichzeitig die unverstandene Geschichte. Es gibt diese Räume nicht.
Assmann: Nein, diese Verspanntheit kommt zustande, weil man die Opfer nicht verletzen will. Wenn die Opfervertreter sagen, mit Degussa geht es nicht, dann können wir nicht antworten: „Hört mal, stellt euch nicht so an. Degussa hat doch in den Zwangsarbeiterentschädigungsfonds eingezahlt, jetzt akzeptiert das mal.“ So kann kein Deutscher mit jüdischen Opfern reden. Wir sind in dieser Debatte entmachtet. Weil die Juden entscheiden, nicht wir. Und wenn Juden argumentieren: Lasst den Anstrich doch drauf, dann mögen sie uns aus dem Herzen sprechen. Aber sie sind unser Sprachrohr, denn wir können diese Position nicht aufbauen. Daher die Verklemmung. Insofern haben wir eine zensierte Situation.
Welzer: Das sehe ich anders. Da zeigt sich eine Ängstlichkeit in der eigenen Artikulation. Das muss auch so sein. Es spiegelt die Maßstablosigkeit der nationalsozialistischen Herrschaft, die es noch immer schwierig macht, dazu eine Relation zu finden. Ich finde den Satz von Raul Hilberg so treffend: „In Deutschland ist der Holocaust Familiengeschichte.“ Weil es diese freien Räume nicht gibt, weil alle noch immer danach suchen, deshalb gibt es immer wieder diese Verspannungen.
Assmann: Gibt es in Deutschland wirklich keine Holocaust-freien Räume? Das ist ja ein markiger Satz. Aber stimmt er? Und wollen wir uns den immer wiederholen? Wir sind ja manchmal unersättlich darin, Schuldbezichtigungen auf uns zu laden. Also konkret: Hätte es keine Alternative zu Degussa gegeben? Eine Firma, die erst seit zwanzig Jahren existiert etwa. Wäre das auch eine „Holocaust-Firma“ gewesen? Und was bedeutet der Satz, dass der Holocaust hier Familiengeschichte ist? Wir haben alle Familiengeschichten – und sind deshalb alle Teil der Holocaust-Geschichte? Das ist zu pauschal. So kommen wir an das Problem gar nicht ran.
Welzer: Doch.
Assmann: Nein, das ist eine typische Totalisierung: Holocaust gleich Deutschland, alles ein und dasselbe, und das bis heute. Was bringt das? Mein Vater hat seinen Beruf verloren in der NS-Zeit, meine Mutter gehörte zu einer Widerstandsbewegung. Und – ich traue mich kaum, es zu sagen, weil es an so vielen Familientischen gesagt wird, Herr Welzer: Mein Opa war kein Nazi.
Welzer (lacht): Frau Assmann, das habe ich nicht gewollt.
Assmann: Ich weiß, dass meine Geschichte nicht typisch ist – das ist doch klar. Aber wenn man das Heterogene übersieht, kommt man an die Verhältnisse nicht ran. Damit bekräftigen wir noch Stereotype, die es im Ausland gibt. Das bringt nichts.
Welzer: Das ist ein Missverständnis. Ich meine das nicht normativ. Der Satz, dass es keine Holocaust-freien Räume gibt, beschreibt, dass das nationalsozialistische Vernichtungsprojekt zentral für die NS-Politik war. Die Vernichtung war kein Epiphänomen. Sie ging durch jede Familie hindurch, selbst wenn es eine Familie war, die sich tatsächlich abgegrenzt hat. Und es geht durch die Firmengeschichten hindurch. Wer jetzt sagt: „Ich suche den Holocaust-freien Raum“, drückt nur den Wunsch aus, dass es einen Ort des identifizierbaren Guten gibt. Nur wenn man diesen Wunsch versteht, begreift man, wieso regelmäßig diese Skandalisierungsanlässe entstehen.
Assmann: Aber wir haben es mit dem Zentralrat der Juden zu tun, und wir können uns über diese Stimme nicht hinwegsetzen. Es gibt Rücksichten und Diplomatie, mit allen Absurditäten, die dazugehören. Im Übrigen finde ich den Degussa-Fall hervorragend – denn wenn dieses Mahnmal einen Sinn hat, dann den, ab und zu eine Erregung zu produzieren. Dann reden die Leute wieder ein bisschen darüber und lesen in ihrer Zeitung, welche Firma in den Fonds eingezahlt hat und welche nicht.
Es gibt Zeichen, dass sich das Projekt Vergangenheitsbewältigung, über das sich Generationen der Bundesrepublik definiert haben, zu Ende geht. Stimmt das?
Welzer: Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit war ein erfolgreiches Projekt – aber es ist nicht zu Ende. Denn weil das aufklärerische Projekt, das Auschwitz ins Zentrum gestellt hat, so erfolgreich war, treten jetzt Gegen-Erinnerer wie Erika Steinbach an und versuchen, ihr Thema durchzusetzen.
Also wird der NS-Zeit auch in zehn, zwanzig Jahren für Deutschland konstitutiv sein?
Welzer: Eigentlich ist das die falsche Frage. Denn das entscheiden wir nicht. Wir können die Verspannungen oder Skandale nicht beeinflussen. Wir haben es nicht in der Hand. Es passiert einfach. Das ist ja das Interessante.
STEFAN REINECKE, 46, ist taz-Autor, JAN FEDDERSEN, 47, Redakteur bei taz zwei und taz.mag. Das Gespräch fand in Konstanz im Hause Aleida Assmanns statt