Der Krieg ernährt den Krieg

Die Flutwelle hat Aceh in die internationale Öffentlichkeit gebracht. Seit 1873 die Holländer einfielen, sind Frieden und Selbstbestimmung hier nicht über ein Intermezzo hinausgekommen. Der gegenwärtige Bürgerkrieg hat jeden sechsten der viereinhalb Millionen Acehnesen in die Flucht getrieben und zehntausenden Menschen das Leben gekostet. Interessiert hat es kaum jemanden. Bis auf die Mitarbeiter indonesischsprachiger Radiodienste im Ausland waren internationale Medien in Aceh nicht vertreten, und auch die nationale indonesische Presse widmete dem Konflikt nur noch sporadisch Aufmerksamkeit. Schon auf dem indonesischen Archipel verteilen sich so viele regionale Konfliktherde – Westpapua, die Molukken, Westkalimantan, Osttimor –, dass selbst Diplomaten und Korrespondenten den Überblick verlieren. Wie sollen die Acehnesen auf Aufmerksamkeit hoffen bei der Vielzahl von Kriegen und Menschenrechtsverletzungen weltweit?

Dabei zeigt das Beispiel von Osttimor, als ein einzelner Bericht eines französischen Fernsehteams eine mediale und diplomatische Kettenreaktion auslöste, dass die Acehnesen wohl nur dann eine Chance auf Frieden hätten, wenn es ihnen gelänge, Aufmerksamkeit zu wecken. Aber Osttimor war auch deshalb anders – so ist in Aceh oft zu hören –, weil dort Christen gegen eine muslimische Zentralregierung gekämpft haben. Wer interessiere sich schon, wenn es Muslime seien, die ermordet, vertrieben oder gefoltert würden, noch dazu von einem Staat, der sich unter seiner letzten, laizistischen Präsidentin den USA andiente? Tatsächlich bemühen sich Regierungsvertreter in Jakarta, die Rebellen mit den Taliban gleichzusetzen. Wie amnesty international herausstellte, nutzen viele Staaten den 11. September, um ihre Repressionen als Krieg gegen den Terrorismus zu kostümieren. Russland, China, Indien, Israel, Ägypten oder Usbekistan stoßen heute auf deutlich mehr Verständnis im Westen, wenn sie im Namen der Terrorbekämpfung gegen angebliche und wirkliche Islamisten vorgehen.

Dass gerade die Acehnesen unter dem Verdacht des Extremismus stehen, ist nicht zufällig, galten ihre religiösen Anschauungen immer schon als besonders streng. Die Islamisierung Acehs setzte im Vergleich zu anderen Regionen Südasiens früh ein, im Zuge des Gewürzhandels zwischen der nahöstlichen Welt und den Molukken im 13. Jahrhundert. Dabei wandelte sich mit der Religion auch die Herrschaftsform: Aus den buddhistischen Höfen wurden Sultanate, die sich in ihrer Ordnung an der persisch-arabischen Welt orientierten. Der Islam war für die Acehnesen nicht nur ein Glauben, sondern schuf auch eine neue soziale und politische Ordnung. Demgegenüber begann sich der Islam auf Java, der heutigen Kerninsel Indonesiens, erst vierhundert Jahre später durchzusetzen und nahm weit stärker als in Aceh die bestehenden Kulturen auf. Mit der neuen Religion etablierte sich kein neues politisches System. Daher ist die religiöse Welt des Islams auf Java vielfältiger und stärker durch vorislamische Traditionen bestimmt als in Aceh, wo sich eine relativ klar konturierte, orthodox-islamische Identität herausbildete, die bis heute das Selbstverständnis von Staat und Gesellschaft entscheidend prägt. Anders als im übrigen Indonesien gründet das Recht in der Scharia, sind die meisten Frauen verschleiert und wird während des Ramadan öffentlich nichts verzehrt. Dass sich Widerstand gegen äußere Mächte bis heute auch islamisch artikuliert, ist nur zu natürlich, denn im Selbstverständnis der Acehnesen ist es vor allem ihre Religiosität, die sie von Holländern oder Javanesen unterscheidet. Doch hat es in der 130-jährigen Geschichte ihres Aufbegehrens nur eine einzige Phase gegeben, in der die Religion nicht nur der Ausdruck, sondern auch das Motiv des Kampfes war, und zwar nach der internationalen Anerkennung der Unabhängigkeit im Jahr 1949.

Der neue Staat vereinigte die zahlreichen, historisch und kulturell kaum miteinander verbundenen Kolonien Hollands zu einem modernen Nationalstaat. Obwohl die Acehnesen zunächst die Gründung Indonesiens feierten, kam es danach immer wieder zu Rebellionen gegen die Zentralregierung. Unabhängigkeitskriege waren das nicht, vielmehr ging es darum, das laizistische Staatswesen zu islamisieren, vor allem im Bereich des Rechts. Die Zugeständnisse, die die säkular orientierte Elite auf Java den stärker religiös orientierten Acehnesen bei der Staatsgründung gemacht hatte, waren stillschweigend wieder zurückgenommen oder gar nicht erst umgesetzt worden. Als die Provinz 1959 einen „Sonderstatus“ mit kultureller und religiöser Autonomie erhielt, ebbte die Rebellion ab.

Der gegenwärtige Aufstand hat ein anderes Ziel: die Unabhängigkeit Acehs. Seine Ursachen gehen zurück auf das Jahr 1965, als in Jakarta General Suharto putschte und die so genannte Neue Ordnung ausrief. In Suharto paarte sich autokratische Auffassung mit dem Willen, das Land zu modernisieren, zu zentralisieren und zu industrialisieren. Zudem betrieb Suharto die Javanisierung Indonesiens, nicht zuletzt durch Bevölkerungstransfers von Java in die verschiedenen Regionen. Bis in einzelne Floskeln übernahm die Rhetorik der „Neuen Ordnung“ die Muster des europäischen Kolonialismus, nur dass die Kolonialmacht der indonesische Zentralstaat selbst war. Keiner der Konflikte, die nach dem Sturz Suhartos und mit dem Übergang zur Demokratie an beinah allen Rändern des Archipels ausgebrochen sind, lässt sich ohne diese zentralistische Politik verstehen: In Osttimor stand die Bevölkerung gegen die Besatzung durch indonesische Truppen im Jahr 1975 und die Vorherrschaft javanesischer Zuwanderer auf; in Westkalimantan massakrierten christliche und animistische Dayaks muslimische Einwanderer aus Java; in Neuguinea kämpfte die „Organisation Freies Papua“ gegen die Vorherrschaft der Javanesen.

Für Aceh, das aufgrund seiner Geschichte und seines Sonderstatus bis dahin weitgehend von äußeren Einflüssen und Einwirkungen abgeschirmt war, hatte die „Neue Ordnung“ dramatische Auswirkungen. Suharto ließ die Bodenschätze Acehs in großem Stil ausbeuten, so dass in den 80er-Jahren 40 Prozent des weltweiten Gasproduktion aus Indonesien stammte. Zementanlagen, Raffinerien und industrielle Komplexe wurden errichtet, aber den Profit daraus zog die Zentralregierung fast vollständig ein: 11 Prozent trug Aceh zum nationalen Haushalt bei und erhielt weniger als 1 Prozent zurück. Nicht einmal von der zunehmenden Zahl der Arbeitsplätze profitierten die Acehnesen, da Suharto die Masseneinwanderung von Javanesen nach Aceh förderte, um die dicht besiedelte Zentralprovinz zu entlasten. Die Arbeiter und Angestellten der großen Industrieanlagen lebten zumeist isoliert von der übrigen Bevölkerung, deren soziale Lage sich trotz des Aufschwungs eher verschlechtert hatte. Die Unzufriedenheit der Acehnesen richtete sich vor allem auf diese ökonomische Benachteiligung, aber auch auf die Präsenz einer neuen Schicht von leitenden Beamten und Angestellten aus Java, denen die kulturellen und religiösen Traditionen Acehs fremd, wenn nicht rückständig erschienen.

1976 nahm die „Bewegung Freies Aceh“ (Gerakin Aceh Merdeka, kurz: Gam) unter Hasan di Tiro, einem Sohn acehnesischer Notabeln, den militärischen Kampf gegen die Zentralregierung auf. Ihr Ruf nach Unabhängigkeit stieß zunächst nicht auf das erhoffte Echo – ein Hinweis darauf, dass das Verlangen der Acehnesen nach einem eigenen Staat keineswegs, wie gelegentlich zu lesen, auf archaische Ursprünge zurückzuführen ist. Von der indonesischen Armee fast besiegt, setzte die Gam den Kampf in den 80er-Jahren für mehrere Jahre aus, um ihn 1989, besser vorbereitet und ausgestattet, wieder aufzunehmen. Inzwischen hatten sich die Auswirkungen von Suhartos Politik in vollem Umfang gezeigt, sodass weit mehr mit den Rebellen sympathisierten. Immer weiter zurückgedrängt, erklärte die indonesische Armee Aceh 1991 zum „militärischen Operationsgebiet“ und schaltete fast alle zivilen Institutionen aus, zuvörderst die Justiz. Um die Bevölkerung davon abzubringen, die Rebellen zu unterstützen, griff das Militär auf Plünderungen, Mord, In-BrandSetzen oder Vergewaltigungen zurück. Tausende Männer verschwanden, wenn sie nicht an Ort und Stelle umgebracht wurden, sodass ganze Dörfer heute nur von Frauen bewohnt werden, „Witwendörfer“ genannt. Weil auch die Gam für Menschenrechtsverletzungen und „ethnische Säuberungen“ verantwortlich ist, bleibt kein Teil der Bevölkerung verschont: Während das Militär die Acehnesen und damit die Mehrheit der Bevölkerung drangsaliert, widmet sich die Gam der Minderheit,vor allem den eingewanderten Javanesen. Mehrer sind zehntausende Javanesen sind in den letzen Jahren aus Aceh geflohen.

Während die Verwaltung verfiel, agierten die lokalen Offiziere immer selbstständiger und verwischten sich die Konturen. Rangen auf der einen Seite Militär und Polizei zunehmend um die Macht und das Geld, löste sich die Gam in Einzelfraktionen und örtliche Kommandos auf. So nahm die Auseinandersetzung in den 90er-Jahren allmählich das Muster neuer Kriege an – Konflikte, wie sie auch in Afghanistan, Somalia oder Tadschikistan ausbrachen und die sich von den bisherigen Formen des modernen Kriegs unterscheiden. Dabei füllen örtliche Milizen das Vakuum, das entsteht, wenn der Staat verschwindet. Der Krieg wird sein eigener Zweck: In Regionen, in denen die Ökonomie auf den Stand des vorindustriellen Zeitalters zurückgeschossen, häufig sogar die Landwirtschaft zugrunde gerichtet worden ist, bietet der Dienst bei einem der Warlords häufig die einzige Möglichkeit zum Broterwerb. Deren Milizen haben weniger mit regulären Streitkräften zu tun als mit waffenstarrenden Mafiosi, gleich ob sie auf der Seite des Staates oder der Opposition stehen, sofern diese Begriffe noch von Bedeutung sind. Auf diese Weise sind in Aceh insbesondere westliche Öl- und Gaskonzerne in die Finanzierung des Krieges involviert. Vor allem aber bedeutet die militärische Hoheit die Kontrolle über Handels- und Schmuggelwege, Drogen- und andere Arten von Geschäften. Eines der größten Probleme für internationale Hilfe ist, dass es praktisch unmöglich ist, ohne Beteiligung des Militärs oder der Polizei zu agieren.

Nach dem Sturz Suhartos und der Wahl des liberalislamischen Abdurrahman Wahid zum Staatspräsidenten im Jahr 1999 schien sich eine Chance aufzutun, den Konflikt zu beenden. Der militärische Sonderstatus wurde aufgehoben, und der oberste General der indonesischen Streitkräfte, General Wiranto, musste nach Banda Aceh eilen, um sich bei der Bevölkerung formell zu entschuldigen. Diese nutzte die neue Freiheit, um für ein Referendum über die Unabhängigkeit Acehs zu demonstrieren. Bei der größten Kundgebung versammelten sich in Banda Aceh, einer Stadt von 270.000 Einwohnern, mehrere hunderttausend Menschen. Wahid bot eine umfassende Autonomie an und ernannte mit Hasballah Saad einen Acehnesen zum Minister für Menschenrechte. Das Parlament in Jakarta verabschiedete ein Gesetz, das der Provinz unter anderem 70 Prozent der Einnahmen aus der Gasförderung, kulturelle und politische Selbstbestimmung und die Wahl des Gouverneurs zusprach.

In Genf trafen sich Vertreter der Gam und der indonesischen Regierung erstmals zu Friedensverhandlungen. Der neuen Regierung in Jakarta und der politischen Führung der Gam, die hauptsächlich im skandinavischen Exil lebt, mochte man den guten Willen nicht absprechen, das Problem war nur: Die wirklich Beteiligten – das indonesische Militär und die lokalen Kommandanten der Gam – saßen nicht mit am Verhandlungstisch. Vor allem das Militär sabotierte den Friedensprozess, etwa indem es Vertreter der Gam am Flughafen von Banda Aceh einfach festsetzte, indem es parallel zu den Verhandlungen militärische Offensiven begann oder das Vertrauen der Bevölkerung in die neue Regierung in Jakarta durch Gewaltakte untergrub.

Indem sie die Unruhe in Aceh und anderen Provinzen schürten, zementierten die Generäle ihre eigene Daseinsberechtigung und führten die Regierung als unvermögend vor. Zudem besänftigte die Fortsetzung des Kriegs die eigene, durch die Demokratisierung irritierte Armee, weil ihr dadurch eine wichtige Einnahmequelle erhalten blieb. Solange gekämpft wurde, waren die Soldaten und Kommandanten zudem vor Menschenrechtstribunalen sicher, wie sie nach dem Rückzug aus Osttimor eingerichtet worden sind. Aber auch die lokalen Gam-Kommandeure hatten wenig Interesse, den Konflikt zu beenden. Dass sich mit dem Ende Suhartos rasch zivile Institutionen herausbildeten und sich die kulturelle und religiöse Elite Acehs für einen politischen Prozess aussprach, untergrub den Anspruch der Gam, als einzige Gruppe die Interesse der Acehnesen zu vertreten. Die Massenproteste für ein Referendum, das von den Rebellen abgelehnt wurde, schwächte ihre Stellung. Dass sie daraufhin ihre Strategie forcierte, einzelne oder kleine Gruppen von Polizisten zu ermorden, sollte offenkundig die Polizei zu Gegengewalt provozieren, die sich wie immer gegen die unbeteiligte Zivilbevölkerung richtete und damit der Gam neuen Zulauf brachte.

Inzwischen dürfte die Unterstützung für die Gam so hoch sein wie vielleicht noch nie. Die letzte Präsidentin Megawati Sukarnoputri, die Abdurrahman Wahid ablöste, ist eine säkulare Nationalistin, die der orthodoxen Religiosität der Acehnesen viel ferner steht als ihr frommer Vorgänger. Weil sie das Militär bei dem Machtkampf mit Wahid unterstützte, ließ sie den Generälen freie Hand in Aceh. Jedenfalls bis zur Flutwelle hat Megawatis jüngst gewählter Nachfolger, der ehemalige General Susilo Bambang Yudhoyono, nicht erkennen lassen, dass er die Aceh-Politik grundsätzlich zu ändern gewillt ist.

Das Wahnwitzige an dem Rückfall in die Politik der Stärke ist: Wie die meisten anderen Konflikte weltweit wäre auch der Konflikt in Aceh lösbar. Der Nahe Osten mit seinen tief reichenden Verwerfungen und der Gemengelage äußerer Interessen und Einflüsse ist nicht überall.

Die meisten Acehnesen würden eine politische Lösung, die ihnen weit reichende Autonomie, Rechtssicherheit und die Beteiligung an den eigenen Ressourcen brächte, wohl noch immer akzeptieren. Ausländische Staaten sind nicht direkt involviert, und die westlichen Öl- und Gaskonzerne, die den Krieg mitfinanzieren, könnten sich wohl auch mit einem Frieden arrangieren. Selbst die Regierung in Jakarta, die nach der Asienkrise und dem politischen Umbruch Investoren ins Land locken möchte, verfolgt kein eigenes Interesse in Aceh. Aus machtpolitischen Erwägungen unternimmt sie nur nichts dagegen, dass dort andere Institutionen im Staat ihre Interessen rücksichtslos verfolgen. Der Konflikt ist nicht unlösbar, aber solange ihn niemand ernsthaft lösen will, führen diejenigen den Krieg fort, die von ihm profitieren. Solange Aceh geprägt ist von Krieg und Korruption, wird die internationale Hilfe Makulatur bleiben. Die Weltgemeinschaft hätte heute mehr den je eine realistische Chance, den Konflikt zu lösen, sie müsste sich nur für ihn interessieren.

Nun ist die Flutwelle nicht nur in das Leben, sondern auch in den Krieg von Aceh eingebrochen. Leider sieht es danach aus, als könne der Krieg schneller nach Aceh zurückkehren als das Leben.