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Archiv-Artikel

Melancholie mit Knick

Fein wiegen und abwägen und sich nur noch ab und zu aufregen: Die Sterne aus Hamburg spielten im SO 36 und zauberten ein zufriedenes Grinsen in die Gesichter ihrer dreißigjährigen Zuhörer. Es wurde Zusammenhalt geschaffen

Es soll Schnee geben, vielleicht sogar Schneeregen, die Lust, noch einmal nach draußen zu gehen, hält sich bedeckt. Aber kaum den langen Weg nach Kreuzberg angetreten, kommen sie einem wieder in den Sinn, die tollen Lieder der Sterne aus Hamburg: Lieder über den Dreck unterm heimischen Teppich, über Desorientierung in der großen Stadt und über die sinnlose Wut auf eine Welt, die einfach nicht will, wie sie soll. Man fährt also mit der Tram zum dreckiggrauen Alexanderplatz und summt folgende Trostspender vor sich hin: „Die Jahreswende im Keller verbracht und bei der Feierei über Zahlen nachgedacht.“

Weiter mit der U-Bahn wird die Laune unaufhaltsam besser: „Wir wissen nicht mehr wo wir sind, und steigen lieber aus, wir sind unterwegs und doch irgendwie zu Haus.“ Und die liebe, alte Oranienstraße herunter, kurz vorm SO 36, kann man schon von guter Laune und gespannter Erwartung sprechen, als sich geradezu aufdrängt: „Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten, wir fanden uns ganz schön bedeutend.“

Wenn eine Band wie die Sterne in die Stadt kommt um endlich, mit monatelanger Verspätung, ihr neues, ihr siebtes Album „Das Weltall ist zu weit“ vorzustellen – man wäre ja blöd, dies vor lauter Winterdepression zu vertrödeln. Eine bessere Gelegenheit, sich von einer großen, gleich gestimmten Peer Group umarmt, sich kollektiv verstanden, ermutigt und geliebt zu fühlen, bietet sich selten. Der enge Schlauch des SO 36 ist voll gestopft mit Dreißigjährigen, die zu vielen Strophen, die die Sterne so unsterblich machen, stumm, aber präzise die Lippen bewegen. Es ist eng, trotzdem wird sachte auf der Stelle getanzt. Man findet trotz großer Drangsal noch ein schönes Plätzchen auf dem Podium an der rechten Wand und sieht plötzlich sogar die ganze Band. Vorn lässt sich eine Frau vorsichtig über die Köpfen des Publikums nach hinten reichen, auch dort scheinen die Menschen höflich und zurückhaltend miteinander umzugehen. Frank Spilker, der Sänger, sieht gut aus wie immer: drei Meter groß, die Gitarre, im Verhältnis zum Körper, winzig wie eine Ukulele. Er lächelt unermüdlich nett, steigt ab und zu zum Publikum herunter und lobt sie zwischendurch immer wieder, seine Fans, die klatschen, wenn sie klatschen sollen, und lauthals mitsingen, wenn sie lauthals mitsingen sollen. Meistens sagt er an, was für ein Lied als Nächstes kommt und auch in welchem Jahr es geschrieben wurde – und so kommt man nicht umhin zu bemerken, dass manche Lieder ganz neu, manche aber auch schon zwölf Jahre alt sind.

Es gibt Bands, denen muss man vorwerfen, dass sie sich auf ihrer Masche ausruhen. Die Sterne aber, die von Anfang an und bis heute nichts anderes machten und machen als Resignation in Groove zu verwandeln, wirken darin eher entspannt. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich so angenehm von ihren superwichtigen Hamburger Kollegen, von Blumfeld oder Tocotronic, unterscheiden – von Bands also, die sich von Album zu Album streberhaft neu erfinden und darin manchmal ziemlich überfleißig und verkrampft wirken –, vielleicht liegt es aber auch daran, dass sie einfach unerschöpflich wunderbar ist, diese Melancholie mit Knick, die man nicht zu ernst nehmen sollte: Eine edle Geisteshaltung, wie man sie nur sehr selten findet. Jedenfalls ist man absolut dankbar und alles andere als gelangweilt, auch auf dem neuen Album der Sterne wieder wie gewohnt von denen zu hören, die jetzt endgültig zu spät sind, bei denen gar nichts mehr geht. Von denen, die immer mehr fein wiegen und abwägen und sich nur noch ab und zu aufregen. Ist wirklich gut, eine Band zu haben, mit der man älter werden kann und die einen einfach nur auf dem Laufenden hält über den besseren Standpunkt, die neueste Kaltfront. Und sei es auch manchmal ein bisschen einfach, überklar, gradlinig und rätsellos.

Am Ende des Konzerts: zufrieden grinsende Gesichter überall. Es wurde Zusammenhalt geschaffen. Es wurde sich frei getanzt. Und auf dem Weg nach draußen, dorthin, wo der Schneematsch ist, wartet der wildeste Moment des Abends. Eine Frau kotzt laut, üppig und ausdauernd vors Klo.

SUSANNE MESSMER